Analyse jüdischer Fussballvereine: Jüdisch kicken

Es geht los mit Staunen. Warum verleihen sich Menschen ein jüdisches Image? Und zwar solche, die selbst nicht jüdisch sind, mit dieser Religion nichts zu tun haben und deren Lebens- und Familiengeschichten meist ohne jüdische Bezüge sind? Es geht hier nicht um das Phänomen der Hochstapler, die mit einer erfundenen Biografie eine Art moralischen Gewinn erzielen möchten. Eher geht es um alltägliche Dinge, etwa um überhäufiges „Schalom“-Sagen, das Tragen von Davidsternketten oder das Schwenken einer Israelflagge im Fußballstadion.

Der Sozialwissenschaftler Pavel Brunssen hat dieses Phänomen im Fußball analysiert. Es gibt Profiklubs, denen ein jüdisches Image anhaftet, obwohl dies mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart ebenso wenig zu tun hat wie mit ihren Spielern und Fans. Anhänger von Ajax Amsterdam bezeichnen sich gerne als „Super Joden“, Supporter des Londoner Vereins Tottenham Hotspur nennen sich „Yid Army“, und auch die österreichischen und deutschen Vereine Austria Wien und Bayern München gelten ihren Fans nicht selten als „jüdische Vereine“ oder auch „Judenklubs“.

Dass einem solchen Phänomen eine kaum sortierbare Melange aus verschiedensten Versatzstücken zugrunde liegt, lässt sich erahnen. Brunssen hat sich deshalb für sein Buch, das als Dissertation vorgelegt wurde (leider nur auf Englisch), auf eine Art archäologisches Freilegen der verschiedenen Bedeutungsebenen eingelassen. Er entdeckt Wahrnehmungen des Holocaust, die in den Niederlanden, in England, in Österreich und in Deutschland sehr unterschiedlich sind.

Das Buch

Pawel Brunssen: „The Making of „Jew Clubs“: Performing Jewishness and Antisemitism in European Football and Fan Cultures Indiana University Press 2025, 480 S., 55 US-Dollar

Brunssen beschäftigt sich mit der jeweiligen Geschichte Münchens, Wiens, Amsterdams und Londons, er schaut sich die nationalen Gedenkkulturen an und analysiert die Beziehungen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft zur jüdischen Minderheit. Und er betrachtet die je besondere Bedeutung, die der Fußball besitzt – für die Gesellschaft, aber auch für einzelne Fans, die sich nicht selten über ihren Lieblingsklub definieren.

Dass sich Tottenham-Fans Yid-Army nennen, ist unter den Anhängern umstritten – der Begriff gilt als Beleidigung.

Vier hochkomplexe Fallstudien also, von denen jede einzelne wertvoll ist. Sie handeln von Judenhass, von kollektiv unbewältigter Vergangenheit und von Philosemitismus, der nicht selten mit ähnlichen Verallgemeinerungen und Stereotypen arbeitet wie der Antisemitismus.

Nicht zufällig entstehen diese merkwürdigen Konstrukte von nichtjüdisch-jüdischen Vereinen historisch immer in Post-Holocaust-Gesellschaften. Letzteres gehört zu den Gemeinsamkeiten, die Brunssen herausarbeitet – und zugleich offenbart es, was die Fälle unmöglich gemeinsam haben können: Schoah-Geschichte ist in den Niederlanden und Großbritannien eben komplett anders als in Deutschland und Österreich.

Gemeinsam ist den analysierten Diskursen zu „Judenklubs“ nicht zuletzt, dass genau dieses Wort, „Judenklub“, eine überwiegend abwertende Konnotation hat. Gerade in Amsterdam und London gab es zunächst antisemitische Attacken und erst dann die Selbstwahrnehmung als jüdisch. Ähnliches lässt sich auch für München zeigen, aber wesentlich verhaltener.

Der Begriff „Yid“ ist bis heute eine Beleidigung, und dass sich Tottenham-Fans „Yid-Army“ nennen, ist unter den Anhängern umstritten. Gleichwohl müssen sich diese Fanszenen oft noch heftigeres anhören, etwa „Hamas, Hamas, all Jews to the gas“. Da wirkt die Aneignung eines Wortes wie „Yid“ eher wie ein selbstbewusster Akt – ein Phänomen, das es in anderen sozialen Gruppen auch gibt. Freilich ist es ein Akt der Aneignung, der nicht von jüdischen Fans dieser Vereine vollzogen wurde.

Es ist eine große Paradoxie, die Brunssen am Beispiel der nichtjüdisch-jüdischen Fußballklubs analysiert: Es ist, erstens, von „jüdischen Vereinen“ die Rede, obwohl sie es definitiv nicht sind. Aber, zweitens, die Ablehnung einer solchen Zuweisung wäre problematisch, denn sie klänge wie eine Distanzierung. Die, drittens, positive Antizipation jedoch hat etwas Verfälschendes, letztlich wohl auch Übergriffiges, denn es schwingt implizit mit, die Konstruktion eines jüdischen Vereins sei auch durch Vertreter der nichtjüdischen, meist christlichen Mehrheitsgesellschaft möglich.

Schaut man sich die Erfolge der Vereine an, wäre unter Umständen sogar der aberwitzige Schluss denkbar, Nichtjuden könnten viel besser jüdische Vereine betreiben.

Brunssen selbst zieht ein akademisch-zurückhaltendes Fazit seiner Analyse. Sie zeige, „dass die Aufarbeitung der Vergangenheit ein fortlaufender Prozess ist, während die vollständige Bewältigung der NS-Vergangenheit weiterhin unmöglich bleibt“. Das ist gewiss richtig und wird von ihm selbst ja gründlich belegt. Doch im Grunde erklärt uns dieser genaue Blick auf die Fanszenen vier europäischer Profiklubs mehr: wie selbstzufrieden Vergangenheitsaufarbeitung oft stattfindet, dabei oft bemüht um einen moralischen Benefit – und dies in einem ideologischen Umfeld, das sich gerne als „christlich-jüdisches Abendland“ umschreibt. Letzteres dürfte deutlich machen, dass es sich um ein allgemeines Problem handelt. Und zwar eines, das sich im Fußball etwas deutlicher zeigt, auch wenn nach dieser großen Studie immer noch das Staunen bleibt.