Alle Voraussetzungen für eine Eskalation

Pfarrer Jaime Edwards-Acton steht auf der Alameda Street in der vordersten Reihe. Er trägt Jeans, ein schwarzes Hemd mit Kollar und eine bunte Stola um den Hals. Der Polizeibeamte ihm gegenüber hat eine schwarze Uniform an, einen Helm auf dem Kopf und einen Schlagstock in den Händen. Edwards-Acton sagt: „Wir wollen deeskalieren.“ Tags zuvor hat es um die Haftanstalt im Zentrum von Los Angeles herum Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei gegeben, mit Steinewerfern, brennenden Autos, Gummimunition und Tränengas.

An diesem Tag ist es bislang friedlich, doch die Stimmung ist angespannt. Gerade erst hat die Regierung Donald Trumps angekündigt, neben der Nationalgarde auch noch 700 Marines nach Los Angeles zu verlegen. Um die Lage unter Kontrolle zu bringen, heißt es aus Washington. Eine unnötige Provokation, sagt Gavin Newsom, der Gouverneur von Kalifornien.

Edwards-Acton ist Pfarrer der St. Stephen’s Episcopal Church in Hollywood und hat in den vergangenen Wochen hautnah erlebt, woran sich die Proteste in Los Angeles in den vergangenen Tagen entzündeten. 14 Personen aus seiner Gemeinde, Einwanderer ohne gültigen Aufenthaltsstatus, wurden jüngst von Beamten der Einwanderungsbehörde ICE mitgenommen. Die meisten Männer und oft die Versorger, sagt der Pfarrer. Niemand wisse, wohin sie gebracht worden seien. „Es gibt viel Angst und viel Wut.“

Diese Angst und diese Wut brechen sich dieser Tage auf den Straßen von Los Angeles Bahn. Am Montag stehen sich den vierten Tag in Folge Demonstranten und Sicherheitsbeamte in der Innenstadt gegenüber. Das Knattern der Polizeihubschrauber ist zum Begleitlärm geworden. Noch hat es keine Zusammenstöße gegeben, doch je später der Abend wird, umso größer wird das Risiko, heißt es bei der Polizei. Am Wochenende hatte es 74 Festnahmen gegeben, unter anderem wegen eines Molotow-Cocktail-Angriffs und Steinwürfen auf Polizeibeamte.

Knapp ein Drittel der Angelinos sind Einwanderer

Die Lage hat alle Voraussetzungen für eine Eskalation. Trumps harte Migrationspolitik ist hier an der Westküste kein abstraktes Thema. Im jüngsten Zensus von Los Angeles County machten Einwanderer knapp ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Fast jeder kennt jemanden, der von Festnahmen durch ICE im engeren Umfeld zu erzählen weiß. Dabei trifft es lang nicht mehr allein straffällig gewordene Migranten ohne Papiere, wie Trump das behauptet hatte. Dass mit der Nationalgarde nun schwer bewaffnete Militärs in den Straßen von Los Angeles stehen, trägt nicht zur Entspannung der Lage bei.

Bryan ist einer der vielen jungen Leute, die am Montag trotzdem zum Demonstrieren in die Innenstadt gekommen sind. Er trägt Cowboyhut, Sonnenbrille und eine große Mexiko-Flagge am Rucksack. „Ich will niemanden provozieren“, sagt der 31 Jahre alte Mann. Aber man müsse ein Zeichen setzen. Bryans Eltern sind aus Mexiko eingewandert, aber inzwischen amerikanische Staatsbürger. Er ist in Los Angeles geboren und hat im Marine Corps gedient.

„Ich bilde mir gern ein, ich bin amerikanischer als die meisten“, sagt er. Doch was gerade in der Migrationspolitik geschieht, ist ein „Albtraum“ für ihn. Der Einsatz der Nationalgarde in Los Angeles sei noch dazu ganz und gar überzogen. „Wir hatten die Nationalgarde auch nicht im Einsatz, als sie Washington gestürmt haben“, sagt er. Eine Anspielung auf den Sturm des Kapitols durch Präsident Donald Trumps Anhänger.

Zu seinem Amtsantritt im Januar hatte Trump beinahe alle Randalierer vom 6. Januar 2021 begnadigt, auch diejenigen, die Polizeibeamte angegriffen hatten. Im Falle der Demonstranten in Los Angeles verschärft er seine Rhetorik jedoch ständig. Am Montag schreibt er auf seiner Plattform „Truth Social“ von „Umstürzlern“, die im Falle von Angriffen auf Beamten „härter als je zuvor“ getroffen würden. Nach seiner Darstellung wäre Los Angeles „komplett zerstört worden“, hätte man die Nationalgarde nicht entsendet. Randalierer hatten in der Nacht zum Montag einige Geschäfte geplündert. Viele Mauern und Gebäude in der Innenstadt sind mit Kommentar wie „Fuck ICE“ beschmiert.

In der Innenstadt herrscht Ausnahmezustand

In vielen Teilen von Los Angeles mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern geht das Leben dieser Tage ungestört weiter. Doch in der Innenstadt gilt seit dem Wochenende der Ausnahmezustand. Am Montagnachmittag laden Arbeiter gerade die verkohlten Überreste der selbstfahrenden Waymo-Autos auf Lastwagen, die Demonstranten in der Nacht in Brand gesetzt hatten. An einem Bundesgebäude knien Arbeiter an einem Mäuerchen, um Graffitis zu entfernen, zwei Ecken weiter werden neue gesprüht.

Von den 2000 entsendeten Nationalgardisten sind laut dem kalifornischen Gouverneur Newsom bislang nur 300 in der Stadt im Einsatz. Doch die Männer in Tarnfarben sind so positioniert, dass sie medienwirksame Bilder abgeben. Sie stehen mit Sturmgewehren, Einsatzhelmen und Schutzschilden in den Eingängen der Bundesgebäude. In der Nähe stehen Demonstranten, die Anti-ICE-Parolen skandieren, einige filmen die Soldaten aus nächster Nähe, doch niemand versucht, sich Zugang zu den Gebäuden zu verschaffen. Newsom schreibt am Montag auf X, Trump wolle trotzdem noch weitere 2000 Soldaten schicken. Es gehe nicht um den Schutz der Öffentlichkeit, es gehe darum, das Ego eines „gefährlichen Präsidenten“ zu streicheln. Kalifornien verklagt Trump wegen der vom Bundesstaat Kalifornien nicht gewollten Entsendung der Nationalgarde: Der Präsident habe seine Befugnisse überschritten und die Verfassung verletzt.

Die Polizei hatte angesichts der Randale Sonntagnacht mitgeteilt, die Gruppe der Demonstranten habe sich im Laufe des Tages verändert: Statt friedlichen Menschen hätten „professionelle“ Störenfriede die Proteste übernommen. Auch am Montag unterscheidet sich die Stimmung unter den Demonstranten je nach Versammlungsort. Im Park neben dem Rathaus haben sich Hunderte versammelt, um gegen ICE und die harte Migrationspolitik Trumps zu protestieren. Eingeladen hat unter anderen die American Civil Liberties Union, eine der ältesten Bürgerrechtsorganisationen der Vereinigten Staaten. Die Regierung wolle mit den Razzien Angst säen, ruft eine der Sprecherinnen. Sie spricht nicht von Festnahmen, sondern von „Kidnapping“. Auf Schildern steht: „ICE raus als LA“. Doch es wird Musik gespielt, es sind kaum Polizisten zu sehen, und nur wenige haben ihre Gesichter hinter Masken verborgen.

„Fuck Trump. Fuck ICE“

Auf dem Weg zu den anderen Protestorten sind am Rathaus noch die Spuren des Wochenendes zu erkennen. Unter einem Dutzend Amerikaflaggen steht auf den weißen Stein geschrieben: „Fuck Trump. Fuck ICE.“ Es ist offenbar versucht worden, das Graffito zu entfernen, aber ohne Erfolg. Zwei Blocks die Straße hinunter, wo Pfarrer Edwards-Acton steht, ist die Stimmung angespannter. Die Demonstranten haben eine Straße blockiert, und ignorieren am Nachmittag die Aufforderungen der Polizei, sie freizumachen. Einige haben ihre Gesichter vermummt, tragen Sonnenbrillen, Kopfbedeckungen und Schutzmasken. In einer ähnlichen Situation hatte die Polizei am Sonntag Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt, um die Demonstranten von der Straße zu treiben.

Die Szene an der Haftanstalt löst sich nach einigen Stunden auf, diesmal ohne Eskalation. Ein abendlicher Protestzug vornehmlicher junger Leute, der am Rathaus beginnt, bleibt friedlich, auch wenn die Teilnehmer vereinzelt Feuerwerkskörper zünden und Wände mit Parolen beschmieren. Doch das Publikum hat sich verändert. Inzwischen haben beinahe alle Demonstrationsteilnehmer ihre Gesichter vollständig vermummt, viele tragen schwarz, einige haben Masken gegen Tränengas dabei. Sie scheinen auf eine Eskalation vorbereitet. Die kommt dann in der Dämmerung auch wieder: Flaschen auf Polizeibeamte, Tränengas und Gummigeschosse.

In Paramount, einem Vorort von Los Angeles, in dem sich die Proteste am Samstag entzündet hatten, ist am Montag dagegen wieder Ruhe eingekehrt. Die Präsenz von vier sandfarbenen Humvees und schwer bewaffneten, maskierten Nationalgardisten im „Paramount Business Center“ mutet bizarr an. Umso mehr, weil sich keine zwei Minuten entfernt an diesem Tag wieder die üblichen Szenen abspielen. Auf den Parkplätzen fast aller „Home Depot“-Baumärkte in den Vereinigten Staaten versammeln sich am Morgen Männer ohne Papiere, die Arbeit suchen: auf der Baustelle, im Haus, im Garten. Das ist auch in Paramount nicht anders.

Als sich in den sozialen Medien am Samstagmorgen die Berichte über eine Razzia am Baumarkt verbreitet hatten, versammelten sich immer mehr Demonstranten, bis es schließlich zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Davon zeugt an diesem Montag nur noch ein weißer Farbschleier auf dem Baumarkt-Schild und die „Fuck ICE“-Aufschrift am Business Center. Etwa zwanzig Männer sind zur Arbeitssuche zurückgekehrt. Einer von ihnen ist Juan aus Guatemala, vierzig Jahre alt, zwei Jungs und seit 15 Jahren ohne Papiere in den Vereinigten Staaten. Er hat Angst, dass sie ihn eines Tages mitnehmen, sagt er. Aber er habe keine Wahl, irgendwoher müsse das Geld ja kommen für die Steuern und das Haus.