

Im Juni 2019 nahm Wladimir Putin an einem Galadiner der G 20 im japanischen Osaka teil. Anlass war das bisher letzte Gipfeltreffen der Staatengruppe, zu dem der russische Präsident persönlich anreiste. Zum Festessen brachte er, wie Journalisten sofort auffiel, sein eigenes Trinkgefäß mit: einen weißen Thermosbecher. Damit stieß Putin mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump an, der Wein trank.
Putin trinke „ständig Tee“ aus solchen Bechern, hieß es dazu aus dem Kreml. Tatsächlich hat Putin auch bei Videokonferenzen mit seinen Untergebenen oder Fernsehauftritten häufig einen Thermosbecher vor sich stehen.
Vermutlich will er so das beinhart-nüchterne Auftreten betonen, das er seit einem Vierteljahrhundert kultiviert: Als Putin im Jahr 2000 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, hob er sich so von seinem Vorgänger Boris Jelzin ab, der gesundheitlich angeschlagen war und ein sichtbares Alkoholproblem hatte. Putin gab sich dagegen als Inkarnation des „nichttrinkenden und nichtrauchenden Mannes“. So lautet das Idealbild eines Partners für viele Russinnen. Gemeint ist damit kein Abstinenzler, aber jemand, der nie volltrunken ist, der immer die Kontrolle behält.
Putin ist ein Vorbild für den Verzicht auf Alkohol
Inzwischen soll dem 73 Jahre alten Putin sogar das Radeberger-Bier, das er einst als Emissär des KGB in Dresden schätzen lernte, zu ungesund sein. Einer Gruppe junger Kampfpilotinnen erklärte er im vergangenen Jahr, er verzichte fast vollständig auf Alkohol und sowieso auf „starke Getränke“. Damit ist in Russland vor allem Wodka gemeint. Mit solchen Äußerungen versucht Putin seit Jahren, die Russen zu einem gesünderen Lebensstil zu bewegen. Das heißt vor allem: sie vom harten Alkohol zu entwöhnen.
Je gesünder eine Gesellschaft ist, desto besser für die Volkswirtschaft. Und die russische Wirtschaft braucht seit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 jede Hand: um Waffen zu produzieren, aber auch in zivilen Branchen. Obwohl das Wachstum sich in diesem Jahr stark abgekühlt hat und viele nichtmilitärische Zweige schrumpfen, ist der Arbeitsmarkt noch immer wie leer gefegt. Die derzeit mitten im Berufsleben stehenden Russen gehören zu den geburtenschwachen Jahrgängen der Neunzigerjahre. Auch hat der Krieg viele ins Militär abgezogen oder ins Exil getrieben. Nicht zuletzt werden die Arbeitsmigranten aus Zentralasien durch immer extremere Schikanen nach und nach vertrieben.
In dieser Lage wäre jeder fitte Rentner, der sich noch etwas dazuverdient, für Putin ein Gewinn. Doch davon hat Russland viel zu wenige. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Russen im Jahr 2023 betrug 73 Jahre; für Deutsche waren es 81 Jahre. Russinnen kommen deutlich näher an die westeuropäischen Werte heran; ihre Lebenserwartung betrug nach Angaben der Weltbank 79 Jahre gegenüber 84 Jahren für die Frauen in der Europäischen Union. Russische Männer hingegen liegen mit nur 68 Jahren weit hinter den 79 Jahren für europäische Männer zurück.
Das hat vor allem zwei Gründe: den Alkohol und den Krieg. Wie genau sich dessen Opferzahlen auf die Lebenserwartung auswirken, lässt sich nur schätzen. Seit März dieses Jahres sind alle relevanten Daten zur Demographie unter Verschluss gestellt – ein Hinweis darauf, wie dramatisch die Lage sich verschlechtert. Journalisten gehen davon aus, dass bisher rund 200.000 Russen an der Front umgekommen sind.
Der unabhängige Demograph Alexej Rakscha schätzt, dass der Krieg die Lebenserwartung der Männer schon jetzt um zwei Jahre zurückwirft. Die Übersterblichkeit – also die Sterblichkeit über Normalniveau – ist zwar geringer als in der Corona-Pandemie, in der in Russland rund eine Million Menschen an oder mit Covid-19 starben. Doch Rakscha weist darauf hin, dass das durchschnittliche Alter der Kriegstoten nur 38 Jahre betrage. Daher seien die Folgen für die Lebenserwartung enorm, sagte er in einem Telefoninterview. Der Demograph wurde wegen seiner kritischen Äußerungen zur Bevölkerungspolitik des Kremls als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt. Er lebt aber weiter in Moskau.
Statistisch gesehen, ist für die Russen der Wodka noch tödlicher als der Krieg. Das Trinken von hartem Alkohol schmälere die Lebenserwartung der Männer um bis zu vier Jahre, für beide Geschlechter um 2,5 bis drei Jahre, sagt Rakscha. Noch immer sei gerade auf dem Land und unter ärmeren Russen das „nördliche Trinkverhalten“ verbreitet, das früher auch in skandinavischen Ländern verwurzelt war. Es besteht darin, sich große Mengen Hochprozentiges in kurzer Zeit einzuverleiben.
Das Wodkatrinken – besonders an Feiertagen, aber nicht nur – ist in der russischen Kultur tief verankert. Viele ältere, einfache Russen halten Wodka, das „Wässerchen“, nach wie vor für gesünder als Bier, das als Dickmacher gilt. Stirbt ein Angehöriger, sieht ein Trauerritual vor, ein Glas Wodka mit einer Scheibe Roggenbrot zu bedecken und für 40 Tage stehen zu lassen. Auch auf Friedhöfen sieht man ganze Familien gemeinsam am Grab stehen und trinken. Doch hat die Akzeptanz Grenzen: Volltrunkene, die auch in Moskauer Parks immer wieder auf Parkbänken zu sehen sind, werden verabscheut und einfach liegen gelassen.
Männer sterben in Russland deutlich früher
Das Problem mit dem Wodka ist: Viel Wodka auf einmal zu trinken ist viel gefährlicher, als dieselbe Menge reinen Alkohols in Form von Bier oder Wein zu konsumieren. Hochprozentiges führt schneller zu Alkoholvergiftungen und Vollrausch, was wiederum Unfälle, Gewalttaten, Brände und andere Unglücksfälle zur Folge hat.
Für weniger gebildete Russen gilt aber gerade das Trinken von hartem Stoff als Ausweis von Männlichkeit – genau wie Rauchen, Autofahren ohne Sicherheitsgurt, sich prügeln und Arztbesuche meiden. Auch deshalb sterben sie viel früher als die Frauen.
Eine Zeit lang schien es, als schaffe Russland wie die skandinavischen Länder den Absprung vom „nördlichen Trinkmuster“. Von 2006, als der Staat eine Zentralstelle zur Kontrolle des Alkoholmarktes einführte, bis 2019 ging der Konsum von Spirituosen Jahr für Jahr zurück. Parallel dazu stieg die Lebenserwartung, besonders diejenige von Männern: von 59 Jahren im Jahr 2005 auf 68 Jahre im Jahr 2019. In dieser Zeit habe eine „kolossale Verschiebung“ der Trinkgewohnheiten stattgefunden, sagt der Demograph Dmitrij Sakotjanskij, der in Moskau lebt.
Als Folge der Globalisierung und eines Generationenwechsels hin zu denen, die nach Ende der Sowjetunion sozialisiert worden seien, hätten die meisten Russen sich in dieser Zeit vom Wodka ab- und dem Bier und Wein zugewandt, insbesondere in den größeren Städten. Nur in den armen, in Russland oft als „depressiv“ bezeichneten Regionen, wo es kaum Arbeit und Freizeitangebote gebe, hätten die alten Trinkgewohnheiten sich behauptet, sagte Sakotjanskij der F.A.Z.
2019 stoppte die Pandemie den Aufwärtstrend abrupt. Als sie vorbei war, kam der Überfall auf die Ukraine. Im vergangenen Jahr begann die Lebenserwartung nach offiziellen Angaben wieder zu sinken. So dürfte es weitergehen, glauben die Demographen.
Von der Front in der Ukraine gibt es Berichte, dass dort ständig getrunken wird. Auch die Rückkehrer haben häufig Alkoholprobleme. Der Wodkakonsum in Russland ist seit 2019 nicht mehr rückläufig, sondern zieht wieder langsam an. Ein Zusammenhang mit dem Krieg liegt nahe, ist aber schwer zu belegen.
Rakscha verweist darauf, dass die Steuern auf Wein und Bier in den vergangenen Jahren schneller erhöht worden seien als die auf Wodka. So sei dieser besonders für ärmere Russen die günstigste Wahl. Diese kontraproduktive und inkonsequente Politik sei auf Unternehmensgewinne ausgerichtet, aber nicht auf die Gesundheit oder die Senkung der Sterblichkeit, sagt Rakscha. Er vermutet dahinter den Einfluss starker Lobbygruppen, zum Beispiel von Wodkaproduzenten, die die Preise niedrig halten wollten. In der Debatte kommt auch häufig das Argument auf, Alkohol müsse günstig bleiben, damit die Menschen nicht zu Frostschutzmittel griffen: Immer wieder vergiften sich Russen daran tödlich. Doch das seien Einzelfälle im Vergleich mit den bis zu 200.000 Menschen, die im Jahr an den Folgen ihres Wodkakonsums stürben, sagt Rakscha.
Schweden zeigt, wie der Abschied von nordischen Trinkgewohnheiten gelingen kann
Wie Regierungen ihre Bürger zum gesünderen Trinken erziehen können, zeigt das Beispiel Schweden. Auch dort dominierten Spirituosen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Alkoholkonsum. Inzwischen sind längst Bier und Wein populärer – wegen des kulturellen Wandels hin zu einem gesünderen Lebensstil, aber auch als Folge eines staatlichen Verkaufsmonopols, unter dem Hochprozentiges sehr teuer ist und nur an wenigen Orten verkauft wird. Viele ältere Russen haben einen ähnlichen Versuch aus sowjetischen Zeiten in traumatischer Erinnerung.
1985 setzte der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei KPdSU, Michail Gorbatschow, seine „Anti-Alkohol-Kampagne“ in Gang, mit der Produktion und Verkauf von Alkohol stark eingeschränkt wurden. In den Jahren zuvor hatten die Probleme sich immer weiter verschärft. Überall wurde getrunken, auch in den Betrieben, und die Produktivität litt. Gorbatschows Kampagne wirkte sofort: Die Lebenserwartung, insbesondere der Männer, stieg sprunghaft. Zugleich aber blühte der Schwarzmarkt für den gefährlichen Selbstgebrannten. Die Produktion des „Samogon“ führte gar zu einem Zuckerdefizit. Im Staatshaushalt fehlten wichtige Einnahmen – heute machen die Abgaben der Alkoholproduzenten nur noch etwa zwei Prozent des Budgets aus, viel weniger als damals. Gorbatschow wurde vom Volk fortan als „Mineralsekretär“ geschmäht und verachtet. Rakscha weist darauf hin, dass Gorbatschow eine Million Menschenleben gerettet habe. Viele von ihnen seien allerdings etwas später in den 1990er-Jahren gestorben, als Alkohol wieder in Hülle und Fülle zu bekommen war.
Auch diese Erfahrung dürfte Putin von einem echten Kampf gegen den Alkohol abhalten: Mit dem verhassten Gorbatschow, dessen Erfolge Putins Machtapparat verunglimpft, will der Präsident nichts gemein haben. Putin spricht oft über Demographie und die schrumpfende Bevölkerung. Unter Ausblendung des Krieges bekräftigte er im vergangenen Jahr das Ziel, die Lebenserwartung bis 2030 auf 78 Jahre zu bringen. Fachleute halten das für vollkommen unrealistisch. Vor allem soll die Geburtenrate steigen, die nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation im vergangenen Jahr 1,45 Kinder je Frau betrug und damit etwas höher lag als die deutschen 1,35 Kinder je Frau. Seit 2022 ist die Rate in Russland kaum gesunken – anders als in Polen und den baltischen Ländern, wo sie deutlich absackte.
Um Kinderreichtum zu fördern, setzt der Kreml auf Ordensverleihungen an Großfamilien, Anti-Abtreibungs-Kampagnen und ein geplantes Kontrollregister für Schwangere, auf Zahlungen an schwangere Studentinnen und Verbote, die sich gegen sexuelle Minderheiten richten. Nach Meinung von Fachleuten dürften diese Maßnahmen die Familienplanung kaum beeinflussen.
Höhere Preise für harten Alkohol und begrenzte Verkaufsmöglichkeiten bei zugleich hartem Vorgehen gegen den Schwarzmarkt gelten als einfacher Weg, die Lebenserwartung zu steigern. Spürbare Schritte in diese Richtung seien jetzt aber kaum zu erwarten, sagt Demograph Sakotjanskij. Genau die 10 bis 20 Prozent der Russen, die noch regelmäßig Wodka tränken, seien auch diejenigen, die besonders von den „kriegerischen Handlungen“, wie er sich ausdrückt, betroffen seien. Viele von ihnen lebten in den armen Regionen, aus denen die meisten Soldaten stammten. Der Anteil der Familien, die Angehörige verloren hätten, sei dort besonders groß. Die Russen in den abgehängten Gegenden gehören auch zu den wichtigsten Unterstützern der Führung in Moskau. Sollte Wodka für sie deutlich teurer und schwerer zugänglich werden, könnte das erheblichen Unmut auslösen, befindet Sakotjanskij. Das werde der Kreml kaum riskieren.
