
Alice und Ellen Kessler wurden am 20. August 1936 in Nerchau geboren und starben am 17. November 2025 in München. Auf ihr Geburtsdatum hatten sie keinen Einfluss, wohl aber auf ihren Todestag. Die 89 Jahre alten Schwestern, weltbekannt als „Kessler-Zwillinge“, haben den 17. November als den Tag festgelegt, an dem sie sterben wollten. Seit November 2024 waren die beiden Frauen Mitglieder im Sterbehilfeverein „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben“ (DGHS). Das bestätigte die Sprecherin des Vereins am Dienstag.
Laut „Merkur“ haben die beiden vor ihrem Freitod einen Abschiedsbrief an Freundinnen wie Carolin Reiber verschickt. Darin zeigen sie sich dankbar dafür, dass es die Sterbehilfe gibt: So bleibe ihnen viel erspart. Laut „Merkur“ waren die Schwestern krank, sie hätten unter Herzproblemen gelitten. Ellen Kessler habe schon einen Schlaganfall gehabt. In dem Brief schreiben sie: „Wir sind zusammen auf die Welt gekommen, und wir werden sie auch gemeinsam verlassen.“ Man solle nicht traurig sein: „Seid nicht traurig. Wir sehen uns wieder auf Wolke 7.“
Eine schwere Krankheit muss nicht vorliegen
Die Sterbehilfe ist gesetzlich immer noch nicht geregelt. Im Jahr 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht den Paragraphen 217 des Strafgesetzbuchs für verfassungswidrig erklärt. Er hatte die Suizidhilfe nur in Ausnahmefällen erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht hob hervor, dass das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben auch ein selbstbestimmtes Lebensende umfasse. Dazu gehöre auch die Freiheit, sich zu töten und dabei Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Eine schwere Krankheit müsse dabei nicht vorliegen. Wichtig sei, dass man sich aus freiem Willen entscheide. Verboten bleibt die aktive Sterbehilfe. Straflos ist jedoch bislang der assistierte Suizid, bei dem ein tödliches Medikament zur Verfügung gestellt wird. Den letzten Schritt, die Einnahme des Medikaments, muss jedoch der Betroffene selbst tun.

Wie die Vermittlung eines assistierten Suizids ablaufen kann, erläutert die DGHS. Zunächst muss man für 60 Euro Jahresbeitrag Mitglied in dem Verein werden. Wenn man mindestens sechs Monate dort Mitglied ist, kann man die Vermittlung eines Freitods in Anspruch nehmen. Dazu müssen in einem schriftlichen Antrag die Beweggründe für den Sterbewunsch dargelegt werden, wie Wega Wetzel sagt, die Sprecherin der DGHS. Voraussetzung ist, dass man geschäftsfähig ist, also frei verantwortlich seinen Willen zum Ausdruck bringt. „Es darf keine akute psychische Problematik bestehen oder eine Demenz vorliegen.“ Der Wunsch müsse „konstant und dauerhaft“ sein.
Im nächsten Schritt überprüfe dann ein Team aus Psychologen den Antrag. Wenn der Antrag befürwortet wird, vermittelt der Verein den Sterbewilligen an „regionale Teams“, bestehend aus einem Juristen und einem Arzt. Dann kommt es zum Erstgespräch: Arzt und Jurist überprüfen in dem Gespräch die Motive und die Familienverhältnisse und vor allem, ob der Wunsch „auf Freiverantwortlichkeit“ beruht. Sie schauen also auch, ob da nicht etwa „ein Ehepartner den anderen Partner zu etwas drängt“, sagt Wetzel. In einem weiteren Gespräch geht es eventuell um medizinisch-pflegerische Aspekte, ob es zum Beispiel auch Alternativen zum Freitod gibt. Alles werde überprüft und protokolliert, so Wetzel. Danach wird der Tag für den Freitod festgelegt.
Auch Angehörige können in den letzten Momenten dabei sein
Am Todestag kommen Arzt und Jurist zu dem Sterbewilligen nach Hause. Auch Angehörige können in den letzten Momenten dabei sein. Der Arzt bringt das Medikament mit: ein Narkosemittel, das so dosiert ist, dass es zum Tod führt. Zunächst legt der Arzt dann einen intravenösen Zugang, wie die Sprecherin sagt. An diesen Zugang wird zunächst ein Beutel mit Kochsalzlösung angehängt – als eine Art Probeversuch. „Der Sterbewillige versucht dann, ob er selbständig die Infusion mit Kochsalzlösung in Gang setzen kann.“ Dazu muss er zum Beispiel an einem Rädchen drehen. Arzt und Jurist würden dann nochmals „auf Ehre und Gewissen“ dem Sterbewilligen klarmachen, was jetzt bevorsteht, und ihn fragen, ob er nach wie vor dazu bereit sei. Das müsse er nochmals mit einer Unterschrift bezeugen. Zudem werde der Arzt auch von seiner Garantenpflicht enthoben: „Denn eigentlich müsste er die Person ja wiederbeleben, wenn sie bewusstlos wird.“

Wenn alles geklärt sei, werde die tödliche Infusion angehängt. Der Sterbewillige kann dann eigenständig an dem Rädchen drehen und die Infusion starten. Nach Angaben der Sprecherin schläft die Person ein, nach Minuten tritt der Tod durch Herzstillstand ein. „Es ist ein friedlicher Tod.“ Der Arzt stellt den Tod fest und trägt auf dem Totenschein als Ursache „nicht natürlich“ ein. Daher wird routinemäßig die Polizei gerufen. Sie wird über den Freitod informiert und leitet das gesetzlich vorgeschriebene Todesermittlungsverfahren ein. Auch im Fall von Alice und Ellen Kessler wurde so verfahren. Nach Angaben der Münchner Polizei muss nun die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob eine Obduktion durchgeführt wird.
Die Vermittlung eines begleiteten Freitods kostet laut DGHS einen „Pauschalbetrag“ von 4000 Euro für eine Einzelperson und 6000 Euro, wenn ein Ehepaar zusammen aus dem Leben scheidet. Das Geld erhalte aber nicht der Verein, sondern werde vorab auf ein Treuhandkonto überwiesen. Davon würden dann die Honorare für die Ärzte und Juristen beglichen.
Sterbehilfevereine stehen auch in der Kritik. Manchmal lagen bei assistierten Suiziden psychische Beeinträchtigungen der Sterbewilligen vor, doch die Gutachten für die freie Willensbildung wurden zuvor nicht von Fachärzten wie Psychiatern erstellt, wie die Autorin Martina Keller im Februar in einem Beitrag für die F.A.Z. darlegte. Die DGHS, die rund 50.000 Mitglieder hat und sich als Bürgerrechts- und Patientenschutzorganisation sieht, wird also auch kritisch gesehen. Der Verein hebt zwar hervor, den Freitod nur zu vermitteln. Doch sollen Präsidiumsmitglieder selbst schon an der Suizidhilfe beteiligt gewesen sein. Ein solches Verhalten stünde der Gemeinnützigkeit des Vereins entgegen.
