
Ein Sandplatz, hat Tennisprofi Stefanos Tsitsipas mal gesagt, ist wie eine Leinwand für einen Künstler. All die Striche und Abdrücke, die Spieler und Bälle darauf hinterlassen, ergeben ein Bild, das sich interpretieren lässt. Und die Spuren im Sand beim Finale der diesjährigen French Open zwischen Jannik Sinner und Carlos Alcaraz erinnerten an ein Gemälde von Jackson Pollock.
Das galt auch für das Spiel. Es war wilde Kunst, die die 15.000 Zuschauer auf dem Court Philippe Chatrier zu sehen bekamen. Ein letztlich höchst dramatisches Finale mit ganz großem (Power-)Tennis, in dem Carlos Alcaraz drei Matchbälle abwehren musste, bevor er das Spiel noch drehte und den Coupe des Mousquetaires in Richtung des Pariser Himmels recken konnte.
Zum ersten Mal in seiner Karriere holte Alcaraz einen 0:2-Satzrückstand auf. 4:6, 6:7 (5:7), 6:4, 7:6 (7:3), 7:6 (10:2) hieß es am Ende dieses packenden Finalspiels voller Wendungen, das aus Sicht der Zuschauer durchaus noch länger hätte dauern können als 5:29 Stunden. Aber nach fünf Sätzen ist nun mal Schluss. Und länger gab es hier in Paris ohnehin noch nie Finaltennis zu bestaunen. Der bisherige Rekord lag bei 4:42 Stunden aus dem Jahr 1982.
„Es ist eine Ehre, mich mit dir messen zu dürfen. Es war ein unglaubliches Finale. Danke an alle“, sagte Alcaraz in seiner Rede auf dem Platz, nachdem er den überragenden Spieler dieses Turniers niedergerungen hatte. Zwei Sätze lang drosch Sinner so auf die Bälle ein, wie er das in den zwei Wochen zuvor gemacht hatte: fast fehlerfrei. Doch dann fand Alcaraz erst einen Weg zurück in dieses Spiel und schaffte es dann sogar, Sinners konstant hohes Niveau noch zu übertreffen. All das ergab ein Finale, das sehr lange in Erinnerung bleiben wird.
„Glückwunsch, Carlos. Du hast dir das verdient“
„Es ist einfacher zu spielen, als jetzt zu reden“, sagte Sinner: „Glückwunsch, Carlos. Ich freue mich für dich und dein Team. Du hast dir das verdient.“ Für den 22 Jahre alten Alcaraz ist es der fünfte Grand-Slam-Titel und der zweite Roland-Garros-Triumph. Schon im vergangenen Jahr hatte er in Paris gewonnen. Ihm fehlt nur noch der Sieg in Melbourne bei den Australian Open. Dann hat er alle vier Major-Turniere mindestens einmal siegreich bestritten.

Nach der Ära der großen Drei, wie Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer genannt wurden, sind Alcaraz und Sinner diejenigen, die es zu schlagen gilt. Die zwei Dominatoren teilten sich die vergangenen sechs Grand-Slam-Titel alle untereinander auf. Doch die French Open waren das erste Finale eines Grand Slams, in dem sie sich gegenüberstanden. Nach diesem spektakulären Spiel kann man sich sicher sein: Es wird nicht das letzte gewesen sein.
Im Grunde hat das gesamte Turnier zwei Wochen lang auf dieses Endspiel zugesteuert. Alcaraz und Sinner gerieten selten in Bedrängnis. Beide spielen derzeit eine Klasse besser als der Rest, wobei der Italiener noch etwas souveräner agierte. Bis zum Finale verlor er keinen einzigen Satz. Alcaraz gab in vier Spielen jeweils einen ab, hatte deshalb 1:46 Stunden länger auf dem Platz gestanden.

Die große Frage vor dem Spiel war gewesen, ob Sinner, dessen flache Grundschläge auf Hartplätzen effektiver sind, inzwischen auch auf Sand so gut spielt, dass er die größten Titel auf diesem Belag gegen den variableren Alcaraz gewinnen kann. In Rom hatte er das Endspiel zuletzt verloren. Deshalb hatten viele Experten den Spanier, der im vergangenen Jahr in Roland Garros triumphiert hatte, vorn gesehen. Doch wenn das Spiel eins gezeigt hat, dann, dass auch mit Sinner in Zukunft auf diesem Belag zu rechnen sein wird.
Stehender Applaus schon vor dem Spiel
Erhoben hatte sich das gesamte Stadion schon, bevor der erste Punkt überhaupt gespielt war. Als Alcaraz und Sinner auf den Platz kamen, standen die Zuschauer und applaudierten. Es sollte ein ums andere Mal wieder so kommen. Gleich zu Beginn musste Sinner erste Breakbälle abwehren. Drei waren es im ersten Aufschlagspiel, das zwölf Minuten dauerte. Nach einer halben Stunde stand es 2:2. Da wussten alle, dass dies ein langer Tag werden würde.
Alcaraz begann etwas besser, sicherte sich das Break zum 3:2. Doch Sinner schlug gleich zurück. Das Spiel war bis dahin recht ausgeglichen. Dann leistete sich Alcaraz mehrere leichte Fehler und gab sein Aufschlagspiel ein zweites Mal ab, was Sinner den Satz bescherte.
Nun stand der Titelverteidiger unter Druck, was sich gleich zu Beginn des zweiten Durchgangs mit dem nächsten Aufschlagverlust bemerkbar machte. Doch als Sinner schon zum Satzgewinn aufschlug, returnierte Alcaraz plötzlich wie Djokovic zu seinen besten Zeiten und sicherte sich das Break. Es war die erste Wende an diesem Abend. Alcaraz hatte nun das Publikum auf seiner Seite. „Carlos, Carlos“, riefen die Pariser Tennisfans. Das nützte ihm im Tie-Break aber auch nichts. Sinner agierte mutiger. Satz zwei ging an ihn.
Alcaraz war zu diesem Zeitpunkt in großen Schwierigkeiten, raffte sich mit dem Rücken zur Wand aber auf und sicherte sich den dritten Durchgang. Er hielt sich den Finger ans Ohr und reckte die Faust in die Luft. Auf der anderen Seite verzog Sinner keine Miene. Der Südtiroler hat vielleicht das beste Pokerface auf der Tour. Selten kann man aus seinem Gesicht oder seiner Körperhaltung ablesen, wie es um sein Gemüt steht.
Doch spätestens nach seinen drei vergebenen Matchbällen im vierten Satz und dem anschließenden Break von Alcaraz dürfte auch er ins Grübeln gekommen sein. Was war hier nur passiert? Seinem Gegner gelang nun fast jeder Schlag. Alcaraz schlug die Vorhand die Linie entlang, spielte perfekte Stopps, traf sogar Volleyschläge im Fallen. Satz vier ging an ihn. Und dann nahm das Drama seinen Lauf.
Nach einem frühen Break im fünften Durchgang servierte Alcaraz schon zum Matchgewinn. Aber natürlich konnte es das an diesem Tag noch nicht gewesen sein. Sinner entschied einen irren Ballwechsel am Netz für sich. Dann gelang ihm das 5:5. Der letzte Satz musste im alles entscheidenden Match-Tie-Break entschieden werden. Und dort legte Alcaraz doch tatsächlich noch mal zu, erzielte Punkte aus fast allen Lagen. Der Spanier nutzte seinen ersten Matchball mit einem Vorhand-Passierball zum 10:2 und ließ sich in den Sand fallen. Es war das Ende eines der größten Tennismatches der vergangenen Jahre.