2024 war bisher in Deutschland ein gutes und in den USA sogar ein sehr gutes Börsenjahr. ntv.de hat mit vier Finanzmarkt-Experten diskutiert, ob sich diese Rally im neuen Jahr fortsetzen kann.
ntv.de: Hand aufs Herz: Haben Sie vor einem Jahr damit gerechnet, dass 2024 ein so gutes Börsenjahr werden könnte?
Oliver Zastrow: Ja. Die Voraussetzungen dafür waren schon ziemlich gut. Bei uns kam nur etwas Skepsis auf, da sich so viele Experten einig darin waren, dass die Wirtschaft in ein Goldilocks-Szenario läuft, also Wirtschaftswachstum gepaart mit niedriger Inflation, und Big-Tech weiter den Markt dominiert.
Reinhard Pfingsten: Dass das Aktienjahr 2024 so gut wird, haben vermutlich die wenigsten kommen sehen. Wir gehörten aber auch vor zwölf Monaten zu denjenigen, die optimistisch in die Zukunft geschaut haben. Rückläufige Rezessionssorgen, wachsende Unternehmensgewinne sowie sinkende Leitzinsen bildeten für uns die Basis hierfür.
Marco Herrmann: Wir waren zwar auch optimistisch für Aktien gestimmt, haben aber „nur“ mit einem knapp zweistelligen Anstieg gerechnet. „Die Hausse nährt die Hausse“, wie es so schön heißt – das macht exakte Prognosen nicht leicht.
Michael Wittek: Zumindest haben wir auf die Statistik gehofft. Denn auch wenn es nicht intuitiv ist, folgt nach einem sehr starken Börsenjahr sehr oft noch ein weiteres starkes. Na ja, zumindest in den USA. Und 2023 notierte die Wall Street ja ausgesprochen fest.
In den USA hat der Hype um Künstliche Intelligenz (KI) die Kurse lange Zeit in die Höhe getrieben. Doch KI erfordert enorme Investitionen, zum Beispiel in Rechenzentren, von denen nicht absehbar ist, wann sie sich auszahlen. Handelt es sich bei KI um einen Hype oder ist die Begeisterung gerechtfertigt?
Wittek: KI wird bleiben und ich widerspreche etwas. Google und Co. wissen sehr gut, wann sich das Investment in ein Rechenzentrum auszahlt. Das geht nämlich ziemlich zügig.
Pfingsten: Natürlich ist beim Thema KI auch ein wenig Hype mit dabei, aber wir sind trotzdem davon überzeugt, dass diese Technologie enorm viele Chancen bietet. Und im Gegensatz zur Dotcom-Blase sind die jetzt relevanten Unternehmen auch finanziell solide ausgestattet, um die nötigen Investitionen tätigen zu können.
Herrmann: Einerseits sind die Bewertungsrelationen mancher Aktien jenseits des Realistischen. Anderseits wird KI zunehmend bei den Unternehmen und Verbrauchern eingesetzt. Die gigantischen Umsatzsteigerungen von Nvidia, dem führenden Hersteller von KI-Chips, belegen, dass die Investitionen hochgefahren werden. Ja, es ist ein Hype, er kann sich aber noch weiter fortsetzen.
Zastrow: Das sehen wir ähnlich. Die Begeisterung um Künstliche Intelligenz ist sowohl gerechtfertigt als auch von einem gewissen Hype begleitet. KI wird als treibender Faktor im aktuellen Innovationszyklus mit einem immensen Marktpotenzial von mehr als 1000 Milliarden US-Dollar bis 2027 betrachtet.
Gegen Ende des Jahres erlebten wir dann eine Trump-Rally. In der ersten Amtszeit von Donald Trump vor acht Jahren lief die Wall Street vor allem zu Beginn gut. Kann sich das wiederholen?
Pfingsten: Die Börsen haben unserer Meinung nach schon einiges vorweggenommen. Zudem wird es auch sehr stark davon abhängen, inwieweit Trump seine angedrohten Zölle umsetzen wird. Sollte am Ende ein globaler Handelskrieg stehen, was nicht unser Basisszenario ist, wäre dieser für die Börsen sicherlich ein Belastungsfaktor.
Herrmann: Der Honeymoon könnte diesmal kürzer ausfallen, da bereits jetzt schon aggressive Handelszölle angedroht werden, zum Teil auch aus reinen politischen Erwägungen heraus, zum Beispiel zur Eindämmung der illegalen Migration. Das Wirtschaftswachstum könnte zunächst darunter leiden.
Wittek: Na ja, Trump-Rally ist mir zu hoch gegriffen. Diese hat sich vor allem in vielen Nebenwerten ausgetobt.
Damals hatte Trump mit einer Senkung der Unternehmenssteuern für gute Stimmung am Aktienmarkt gesorgt. Nun will er die Unternehmen erneut entlasten. Erwarten Sie ein Déjà-vu?
Zastrow: Während Trumps erster Amtszeit stieg der S&P-500 um mehr als 60 Prozent, was maßgeblich auf Steuererleichterungen und Deregulierungsmaßnahmen zurückzuführen war. Die Aussicht auf eine Fortsetzung dieser Politik hat erneut zu einem Anstieg der Aktienkurse geführt. Ja, zurzeit sehen wir ein Déjà-vu.
Wittek: Das wird spannend. Denn es stehen Steuersenkungen und Deregulierung auf der Haben-Seite. Auf der Soll-Seite stehen Handelskrieg und eine möglicherweise der Wirtschaft schadende Migrationspolitik.
Pfingsten: Wie gesagt, wir sind der Meinung, dass vom Kapitalmarkt einiges an positiven Entwicklungen bereits vorweggenommen wurde. Die erste Amtszeit von Trump als Blaupause für die zweite zu nehmen, sehen wir als falsch an.
Trump will die Steuersenkungen vor allem durch höhere Strafzölle auf Importe aus dem Ausland und durch Einsparungen im Staatshaushalt finanzieren. Kann er das schaffen?
Herrmann: Das hat während seiner ersten Amtszeit schon nicht funktioniert und wird es auch dieses Mal wieder nicht. „Trade wars are easy to win“, sagte er damals – eine grobe Fehleinschätzung.
Wittek: Nein, das reicht hinten und vorne nicht. Ich verkürze das und bringe es auf den Punkt: Sparen ist kein Problem. Er muss „einfach nur“ die Sozialausgaben kürzen und damit den ärmeren Haushalten das Geld wegnehmen. Das ist politischer Selbstmord und wird zur Rezession führen.
Zastrow: Da ist sowieso noch einiges im Unklaren. Die Kombination aus Strafzöllen und Haushaltskürzungen zur Finanzierung von Steuersenkungen wird selbst in der Trump-Regierung kontrovers diskutiert.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass die ohnehin schon hohe Staatsverschuldung der USA weiter steigt? Und welche Folgen hätte dies?
Pfingsten: Aktuell liegt die US-Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt bereits bei mehr als 120 Prozent. Unter den OECD-Staaten gehören die USA zu den Ländern mit der höchsten Verschuldungsquote. Wir rechnen damit, dass diese in den kommenden Jahren noch bis auf 130 Prozent steigen könnte.
Zastrow: Langfristig könnten hohe Zinskosten, Inflationsrisiken und eine Schwächung des US-Dollars das Wachstum bremsen und die wirtschaftliche Stabilität gefährden.
Herrmann: Die erhofften zusätzlichen Einsparungen durch die Verschlankung des Staates, dürften enttäuschend ausfallen. Am Anleihenmarkt dürften deshalb die langfristigen Renditen wenig Spielraum nach unten haben, trotz der erwarteten weiteren Zinssenkungen.
Trump will illegale Einwanderer abschieben und keine neuen ins Land reinlassen. Das könnte die Arbeitskräfte in den USA verknappen und die Löhne in die Höhe treiben, richtig?
Wittek: Nicht könnte, sondern wird. Der absolute Großteil der illegalen Einwanderer arbeitet. Wer macht die Jobs dann?
Pfingsten: Eine schärfere Migrationspolitik gehörte zwar zu den wichtigsten Wahlaussagen von Trump und er wird seinen Worten sicherlich auch Taten folgen lassen, aber wir rechnen schon damit, dass seine eigenen Parteikollegen ihn einbremsen werden, da der US-Arbeitsmarkt ansonsten ein Problem bekommen würde.
Zastrow: Die USA haben bereits ein Defizit an Arbeitskräften im Niedriglohnsektor. Die Begrenzung neuer Migration könnte dieses Problem verschärfen. Lohnsteigerungen wären in der Folge unvermeidlich, um die Arbeitnehmer zu halten.
Pfingsten: Positiver Nebeneffekt wäre hier, dass sich dies positiv auf die Kaufkraft der Geringverdiener auswirkt und somit gut für die wichtigste Säule des US-Wirtschaftswachstums wäre, nämlich für den Konsum.
Höhere Strafzölle und ein möglicher Mangel an Arbeitskräften – beides zusammen könnte die Inflation wieder anschieben. Wie groß ist diese Gefahr?
Herrmann: Sehr groß. Es bleibt aber abzuwarten, welche Maßnahmen tatsächlich auch von der Trump-Administration umgesetzt werden.
Wittek: Die Inflation wird strukturell höher bleiben als das, was wir bis vor der Corona-Pandemie kannten. Sie wird jedoch auch nicht ausufern.
Pfingsten: Zudem ist bei den Zöllen zu beachten, dass die inflationäre Wirkung einmalig und nicht dauerhaft wäre.
Blicken wir nach Deutschland. Hierzulande hat sich der Aktienmarkt zwar nicht so spektakulär wie an der Wall Street, aber doch recht gut entwickelt. Das ist angesichts der Konjunkturkrise erstaunlich.
Wittek: Na ja, wenn ich auf den MDAX schaue, also dorthin, wo ich ein wirkliches Abbild der deutschen Konjunktur ablesen kann, kommen einem die Tränen.
Herrmann: Der DAX hat sehr deutlich von SAP profitiert, deren Aktien rund 40 Prozent zum Kursanstieg beigetragen haben. In Europa gibt es leider nur wenige große Technologieunternehmen, die vom Hype um KI profitieren. ASML, Infineon, STM hätten das Potenzial, leiden aber entweder unter Exportbeschränkungen oder einer schwachen Autokonjunktur.
Pfingsten: Das sich der DAX so gut entwickeln konnte, liegt daran, dass die DAX-Konzerne global aktiv sind und nur einen geringen Umsatzanteil wirklich in Deutschland erwirtschaften. Dieser fällt natürlich je nach Konzern unterschiedlich aus, liegt aber im Durchschnitt nur bei rund 20 Prozent.
Wie beurteilen Sie die Aussichten für die Aktienmärkte im kommenden Jahr?
Zastrow: Während die europäischen Märkte aufgrund der US-Politik und andauernd schwachen Wachstums eher schlechter abschneiden könnten, haben die US-Börsen Potenzial zuzulegen. Hierfür sind Reindustrialisierung und starke Gewinnprognosen gute Vorzeichen. Vermutlich werden wir uns aber aufgrund der geopolitischen Spannungen und Trump’schen Überraschungen mit höheren Schwankungen konfrontiert sehen.
Pfingsten: Nach zwei großartigen Aktienmarktjahren wird die Luft jetzt dünner werden.
Wittek: Ich bin da etwas optimistischer. Setzen sich die positiven Aspekte, wie die Steuersenkungen in den USA, durch, könnte der Markt weiter zulegen.
Herrmann: Die Kurse US-amerikanischer Aktien handeln auf Rekordhoch und die Bewertungskennziffern erreichen historische Spitzen. Solange die Unternehmensgewinne um zehn Prozent und mehr wachsen, bleibt das aber vertretbar. Dank Hoffnungen auf Steuersenkungen und weniger Regulierung kann die Rallye im Rahmen des Gewinnwachstums weitergehen.
In welchen Branchen und Regionen sollten Anleger investiert sein?
Pfingsten: Unter regionalen Gesichtspunkten starten wir das Jahr 2025 mit einer Übergewichtung des US-amerikanischen und japanischen Aktienmarktes. Insbesondere der US-Markt sollte davon profitieren, dass er im Umfeld der neuen US-Administration weniger politischen Risiken ausgesetzt ist als Europa oder die Schwellenländer in Asien.
Herrmann: Während US-Aktien mit ihrer Wachstumsdynamik überzeugen, könnten europäische Werte aufgrund ihres Bewertungsabschlags mittelfristig stärker profitieren. Der Technologiesektor bleibt ein globaler Favorit, da er von Megatrends wie Künstlicher Intelligenz, Automatisierung und Cyber Security profitiert. Der Bau von Data Centern, der steigende Bedarf an kostengünstiger Energie und die Weiterentwicklung von Softwareanwendungen erweitern den Kreis der profitierenden Unternehmen. Unseres Erachtens bieten defensive Branchen wie Gesundheit sowie Nahrungsmittel und Getränke mehr Stabilität in den gegenwärtig wirtschaftlich unsicheren Zeiten.
Wittek: Das deckt sich ziemlich mit unserer Einschätzung. Die USA bleiben weiter das Zugpferd der globalen Wirtschaft. Die Bewertung ist hoch und somit sollten – aktuell zu Recht – günstiger bewertete Märkte nicht außer Acht gelassen werden. Dividendentitel halten wir weiter für interessant, auch und gerade in Europa.
Zastrow: Märkte mit stabilen politischen und institutionellen Rahmenbedingungen wie die USA bleiben attraktiv, insbesondere abermals der Technologiesektor. Bereiche, die vom steigenden weltweiten Energiebedarf profitieren, könnten ebenfalls interessant sein.
Und wovon raten Sie ab?
Herrmann: Für konjunkturzyklische Branchen ist es angesichts der Wachstumsrisiken noch kein guter Investitionszeitpunkt.
Zastrow: Einige Aktienmärkte notieren auf Allzeithochs, sodass auch empfindliche Korrekturen möglich sind. Viele Anleger sind zudem sehr konzentriert im Technologiesektor investiert. Auch hier sind Rückschläge möglich, wenn die Firmen die hohen Erwartungen der Analysten nicht erfüllen.
Wittek: Wir warnen vor zu wenig Achtsamkeit. Ändern sich die Rahmenbedingungen, sollte das in der Vermögensanlage Berücksichtigung finden.
Pfingsten: Wir raten immer davon ab, nicht zu investieren. Den richtigen Zeitpunkt gibt es leider nicht, und wer trotzdem darauf wartet, verpasst viele Chancen.
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