Die Stimmung in der Synagoge an der Berliner Rykestraße an diesem Dienstagnachmittag ist konzentriert, aber fröhlich. Vor einem gemalten Sternengewölbe und zwei siebenarmigen Leuchtern wird der Eröffnungssong aus dem Musicalfilm „La La Land“ geprobt. Das Orchester swingt, und auf zwei Bildschirmen werden Strandszenen aus Tel Aviv gezeigt, rhythmisch hopsende Jaffaorangen, Pitafladen wippen im Takt.
Dann betritt eine junge Frau in Schwarz die Bühne. Sie versinkt ein wenig in ihrer weit geschnittenen Jeans und der Teddyjacke, dazu trägt sie Ugg-Boots und einen langen geflochtenen Zopf, der hoch am Hinterkopf beginnt. In der Hand hält sie eine Geige. In Israel kennt nahezu jeder den Namen dieser Frau: Agam Berger. 482 Tage war sie in der Gewalt der Hamas. Jetzt ist sie für die Eröffnung der Jüdischen Kulturtage in Berlin. Der F.A.S. wird sie als einziger Zeitung ein Interview geben.

Als der israelische Armeestützpunkt Nahal Oz am 7. Oktober 2023 von der Hamas überfallen wurde, war Agam Berger 19 Jahre alt. Erst einen Tag vorher hatte sie ihren Militärdienst angetreten. 15 Späherinnen wurden bei dem Angriff getötet, sieben nach Gaza verschleppt. Auf einem Video, das von Bodycams der Terroristen aufgenommen und später von den Familien der Geiseln veröffentlicht wurde, sieht man die jungen Soldatinnen im Schlafanzug, die Hände auf dem Rücken mit Kabelbindern gefesselt, drumherum brüllende Vermummte mit Kalaschnikows. Bergers Mund ist blutverschmiert. Die junge Frau trug damals eine feste Zahnspange. Auch auf den Bildern von ihrer Freilassung am 30. Januar dieses Jahres und beim Wiedersehen mit ihrer Familie blitzten die silbernen Brackets auf.
Wie stabil ist diese junge Frau? Was hat sie durchgemacht?
Inzwischen ist Berger 21 und die Zahnspange weg. Wenn sie lacht, zieht sich ihre Oberlippe zur Seite und gleichzeitig nach oben wie ein Theatervorhang, sodass eine Reihe strahlender Zähne zum Vorschein kommt. Erstaunlich ist, wie oft sie lacht, und wie natürlich und gelöst sie dabei wirkt. In deutschen Medien sind deutlich mehr Texte über die dramatischen psychischen Auswirkungen der Geiselhaft erschienen als Erfahrungsberichte von Geiseln selbst. Vor dem Treffen mit Berger ist keineswegs klar, wie stabil, wie auskunftsbereit die junge Frau sein würde – geschweige denn, was sie durchgemacht hat. Wie also nähert man sich einer mutmaßlich traumatisierten jungen Frau, die Unvorstellbares erlebt haben muss?
Zunächst jedoch steht Agam Berger in der Synagoge Rykestraße zusammen mit dem Sinfonie Orchester Berlin auf der Bühne und probt die Hatikwa, die israelische Nationalhymne. Es handelt sich um die Uraufführung einer neuen symphonischen Fassung, die Berger persönlich gewidmet ist. Aber diese Ehre ist für sie nicht entscheidend. „Hatikwa ist Hatikwa“, wird sie später sagen. Und erzählen, wie sie in Gaza Radio hören konnte, just als die Nationalhymne gespielt wurde. Und Agam Berger, die Geisel, sang „in den Tunneln der Hamas“, wie in Israel viele sagen, auch wenn die Verschleppten oft an anderen Orten festgehalten wurden, leise den Text mit, in dem es sinngemäß heißt: „Wir werden ein freies Volk sein in unserem Land.“

Es bedeute ihr viel, sagt Berger, dieses Stück jetzt in Berlin zu spielen. Schon seit März, seit die Anfrage aus Deutschland über die Israelische Botschaft an sie herangetragen wurde, freue sie sich darauf. Sie wolle auf diese Weise die Stimme der Geiseln erheben, und damals sei ja nicht abzusehen gewesen, dass bis zu ihrem Auftritt alle lebenden Geiseln zurückgekehrt sein würden. Berger sagt: „Die Stimme der Geige erklärt besser als alle Worte die Lage in den Herzen.“
Aber damit nicht genug der Bedeutsamkeit. Die Geige, mit der Agam Berger in Berlin auf der Bühne steht, ist ein besonderes Instrument. Es hat einem jüdischen Musiker gehört, der im Holocaust ermordet wurde; der Mann, der sie restaurieren ließ, hat sie der freigelassenen Soldatin geschenkt. Berger hat mit acht Jahren angefangen, Geigenunterricht zu nehmen, und ein Musikgymnasium besucht. Über die historische Geige sagt sie: „So viele Personen haben ihre Finger daraufgesetzt, das kann man fast spüren.“ Man könne sich vorstellen, was die Geige erlebt habe; sie stehe für Kontinuität. Im April hat Berger sie bei der Gedenkveranstaltung „Marsch der Lebenden“ in Auschwitz gespielt.
Berger ist mit ihrer Mutter nach Berlin gereist – aus Florida
Es ist ein ungewöhnliches Grüppchen, das sich mittlerweile in ein winziges Zimmer auf halber Höhe neben dem Toraschrein beziehungsweise der Bühne zurückgezogen hat. Zwischen einem beleuchteten Schminkspiegel und einem zeremoniellen Vorhang sitzen Agam Berger, ihre Mutter und der israelische Hornist Bar Zemach. Zemach ist 25 Jahre alt und kann dem Widderhorn Schofar, das im Judentum für rituelle Zwecke benutzt wird, Töne entlocken, die es für die Bühne qualifizieren, wie er beim Eröffnungskonzert am Donnerstag beweist. Seine Idee war es, Agam Berger nach Berlin einzuladen, er übernimmt im Gespräch die Übersetzung aus dem Hebräischen, obwohl Deutsch auch für ihn eine Fremdsprache ist.
Agam Berger, wie geht es Ihnen heute?
Zemach dolmetscht: „Sie hat noch keine Struktur für ihr Leben. Sie hat keinen Alltag.“ Berger fühle sich vielmehr „wie in einer zweiten Gefangenschaft“. Erst seit keine Geisel in Gaza mehr terrorisiert werde, könne sie den „ersten Atemzug des Lebens“ nehmen. Wie viele Geiseln hat Berger sich nach ihrer Freilassung der Rettung der übrigen Israelis aus der Gewalt der Hamas verschrieben.

Traut man sich trotzdem, nach schönen Momenten in ihrem Leben seit der Freilassung zu fragen, übersetzt Zemach die Antwort so: „Jeder Moment, in dem sie in den Himmel guckt, ist der schönste Moment. In der Küche sein, im Bett, zu Hause. Sie schätzt einfach jeden Moment des Lebens so sehr seitdem. Und das Schönste ist, dass sie sich frei bewegen kann.“ Wobei „frei“ in ihrem Fall bedeutet: Ganz gleich ob in einem Freizeitpark in Orlando, einer Apotheke in Paris oder daheim in Israel, wo Berger jetzt wieder bei ihrer Familie lebt, südlich von Tel Aviv – überall werde sie erkannt und von Menschen umringt. „Sie wird überschüttet mit Liebe und Fürsorge“, übersetzt Zemach.
Es stellt sich heraus, dass Mutter und Tochter erst an diesem Morgen aus Florida angereist sind, wohin eine Wohltätigkeitsorganisation sie und andere Geiselfamilien eingeladen hatte, in Bergers Fall also mitsamt dem Vater, der Zwillingsschwester und dem jüngeren Bruder, die jetzt nach Israel zurückgekehrt sind. Fragt man Berger, ob sie eine gute Zeit gehabt habe, bejaht die junge Frau und strahlt.
42 Minuten sind vergangen. Frau Berger, sind Sie heute ein anderer Mensch?
Die Mutter sagt, damit hätten sie gerechnet, nach so langer Zeit. „Aber es kam der gleiche Mensch zurück.“ Berger bestätigt das. Sie sei – anders als von den Terroristen beabsichtigt – sogar „besser“ geworden, „innerlich verbessert“, dolmetscht der Hornist, „mit ihrem Gefühl, mit ihrer Identität“.
Auserwählt, um die Hölle zu überleben?
Die Bedeutung dieser Übersetzung muss man sich aus dem Zusammenhang erschließen. Von einigen israelischen Geiseln weiß man, dass sie sehr religiös geworden sind. Auch in der israelischen Gesellschaft insgesamt, sagen Beobachter, nehme die Bedeutung des Glaubens zu. Über Agam Bergers Familie heißt es in Medienberichten, sie sei ursprünglich eher säkular gewesen. Jetzt hat die Mutter zu Beginn des Interviews kurz zur Zimmerdecke aufgeblickt und Gott gebeten, das Gespräch zu segnen. Und sie behauptet, dass ihre Tochter Agam schon immer ein sehr spiritueller Mensch gewesen sei. Von klein auf habe sie Dankesbriefe geschrieben, ganz egal, ob sie nur zusammen gegessen hätten oder in den Urlaub gefahren seien: danke an die Familie, danke an die Freunde, danke an Gott.
Ihr Name – Agam – bedeute zudem „sehr großes Licht“. Und sie habe Schabbat gehalten und an den hohen jüdischen Feiertagen gefastet, vor ihrer Zeit in Gaza, währenddessen, danach. „Das ist Agam“, sagt die Mutter, die in der verzweifelten Sorge um das Leben ihres Kindes tiefgläubig geworden sein muss. Rückblickend erkennt sie in der Geiselhaft ihrer Tochter einen höheren Plan. Der Übersetzer dolmetscht: „Es ist, als ob Agam auserwählt worden sei wegen ihrer besonderen Stärke, um diese Hölle zu überleben und jetzt die Botschaft in die Welt zu tragen.“

Es spielt keine Rolle, ob diese Deutung des Schicksals ein Beweis für den Willen Gottes ist, für die Kraft des Glaubens oder Ausdruck der Traumabewältigung einer Mutter. Sie passt jedenfalls erstaunlich gut zu dieser Frau mit dem Namen „sehr großes Licht“, deren Gesicht mitunter zu leuchten scheint, auch wenn sie über finsterste Dinge spricht.
Frau Berger, was können und wollen Sie von Ihrer Zeit in Gaza erzählen?
Und Agam Berger erzählt. Von wechselnden Häusern, in denen sie untergebracht war, viele davon verlassen und zerstört, sodass nicht mal mehr die Toilette funktionierte, von dünnen Matratzen und verschlafener Zeit auf hartem Grund. „Sie hat sich monatelang nicht geduscht“, sagt der Übersetzer. In einem Radiointerview nach ihrer Befreiung berichtete Berger, dass sie meist zwei Mahlzeiten am Tag bekommen hätten, Fladenbrot und Reis. Jetzt erzählt sie, dass sie für die Terroristen rohen Reis verlesen mussten, wie bei Aschenputtel stellt man sich das vor, und eine winzige Portion davon sowie die Maden darin hätten die Geiseln zu essen bekommen. Berger lacht, und Bar Zemach sagt: „Gut, dass sie darüber lachen kann.“
Niemand in Gaza habe sie anständig behandelt, sagt sie
Sie berichtet weiter von einem palästinensischen Kleinkind, das zu ihr gesagt habe, es spiele gerade „Juden töten“. Von dem Gelächter der Terroristen am Holocaust-Gedenktag, als sie ihre geschichtsunkundigen Bewacher aufklärte, dass in Europa im Zweiten Weltkrieg mehr als sechs Millionen Juden ermordet worden sind. Selbst wenn sie vorübergehend in einem schönen, bürgerlichen Haus untergebracht worden sei, niemand habe sie anständig behandelt. „Egal, wo sie war“, sagt der Hornist, „sie hat sich nicht wie ein Mensch gefühlt.“ Manchmal seien Berger und ihre Gefährtin in einen Tunnel gesperrt worden, mit der Anweisung, nicht zu sprechen, nicht zu lachen und sich nicht zu umarmen.
Immerhin war Berger die gesamte Zeit mit mindestens einer der anderen Späherinnen zusammen. Überhaupt erschlossen sich die Geiseln Berger zufolge durch Austausch untereinander, was am 7. Oktober passiert war. Im Januar 2024 dann, so erzählt sie es, hätten die Terroristen Habseligkeiten israelischer Soldaten gefunden, die diese beim Rückzug zurückgelassen hätten: Kartenmaterial, Gebetsbücher, eine Zeitung. Erst so hätten Berger und ihre Kameradinnen das ganze Ausmaß des Grauens erfahren. In der Zeitung habe sich ein Foto des damaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz mit einer Kerze als Zeichen der Solidarität befunden. „Das hat sie tief berührt“, übersetzt Zemach.
Ein Gebetsbuch durfte Berger behalten, und spätestens damit beginnen Geschichten über Agam Berger, die an christliche Heiligenlegenden erinnern, nur dass Berger und ihre Mutter selbst sie so erzählen: Als die junge Frau einmal am Schabbat für die Terroristen kochen sollte, weigerte sie sich: „Nein. Am Schabbat entzünde ich kein Feuer“, will Berger gesagt haben. Und nicht klein beigegeben, auch wenn die Terroristen Druck machten. Einmal habe sie morgens gebetet, als einer der Terroristen nach ihr gerufen habe. Sie habe ihm bedeutet zu warten, der Mann habe mit Unverständnis reagiert, woraufhin sie ihn gefragt habe: „Wer ist wichtiger: du oder Gott?“
Ergriffene Stille im Kämmerchen zwischen Schminkspiegel und Vorhang. Die Mutter sagt, diese Geschichte höre sie gerade zum ersten Mal. Berger sagt, die Terroristen hätten ihrer Standfestigkeit nichts entgegensetzen können, weil auch für sie das Befolgen religiöser Regeln selbstverständlich sei.
Sie wünscht sich eine Familie
Berger weiß, dass sie glimpflich davongekommen ist. Auf die Frage, ob sie selbst Gewalt erlebt habe, antwortet sie, zum Glück nicht mehr, nachdem sie beim Überfall der Hamas und bei ihrer Ankunft in Gaza geschlagen worden sei. Aber sie sei zeitweilig im selben Haus gefangen gehalten worden wie eine Geisel, die nach ihrer Freilassung von sexuellen Übergriffen berichtet hat. Außerdem hätten sie zusehen müssen, wie diese Frau mit dem Kopf nach unten aufgehängt und geschlagen worden sei.
Es klopft, der Intendant der Jüdischen Kulturtage schaut streng: Bitte Schluss machen, die Sicherheitsleute machen gleich ihre letzte Runde. Es ist spät geworden. Dabei hat Berger eben noch so nett erzählt, wie sie und die anderen Späherinnen sich überlegt hatten, welche Flechtfrisuren sie bei ihrer Freilassung tragen wollten: „Und dann gehst du raus aus Gaza, schön und als Mensch.“

Die Zöpfe der anderen geflochten hat – Agam Berger. Und, nein, die anderen seien weniger strahlend und stark zurückgekehrt. „Jede hat andere Sachen erlebt“, sagt Berger. Aber natürlich stünden sie weiter in Kontakt miteinander. „Wollen Sie den Namen unserer Whatsapp-Gruppe wissen?“ Sie erklärt: Die Entführer hätten die jungen Soldatinnen als ihr „Gold“ bezeichnet, weil sie sich von ihnen als Einsatz in den Verhandlungen mit Israel viel erhofften. Ihre Whatsapp-Gruppe heiße deshalb „Das Gold der Hamas“. Berger lacht.
Allerletzter Gedanke, schon auf dem regennassen Kopfsteinpflaster vor der Synagoge. Das Motto der Jüdischen Kulturtage in diesem Jahr heißt „Atid“, also Zukunft. Was wünscht sich Agam Berger für die Zukunft? „Gute Frage“, sagt Berger. Zunächst hoffe sie auf die Rückkehr der vier letzten toten Geiseln. Und: „Wir wollen frei sein in unserem Land.“ Die Worte der Hatikwa.
Und für sich selbst? Berger denkt einen Moment nach. Eine Familie gründen, sagt sie dann. Und geht mit ihrer Mutter und dem Geigenkoffer zu der Limousine, die sie zum Hotel bringen wird. Der Fahrer wartet schon.
