Sehen Sie im Video: stern Redakteurin Anna Aridzanjan bekommt ihre ADHS-Diagnose erst, als sie Mutter wird – typisch für viele Frauen.
stern-Redakteurin Anna Aridzanjan bemerkt schon als junges Mädchen, dass sie anders ist als andere. Doch ihre ADHS-Diagnose bekommt sie erst Jahre später als erwachsene Frau. Damit ist sie eine von vielen. Denn gerade bei Mädchen bleibt die Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung oft unerkannt.
Anna:
Ich habe es schon in der Schule bemerkt, in der Grundschule, und zwar nicht an meinem eigenen Verhalten, sondern das, was mir sozusagen mein Umfeld gespiegelt hat. Vor allen Dingen die Lehrerinnen, die mir das Gefühl gegeben haben, dass ich mich nicht so verhalte, wie ich mich verhalten sollte. Vor allen Dingen, als es darum ging, dass ich vermeintlich nicht zugehört habe im Unterricht. Ich habe immer geträumt, ich habe immer aus dem Fenster geguckt. Und ich habe immer irgendwie den Eindruck erweckt, als würde ich nicht aufpassen. Aber eigentlich war das meine Taktik, um aufzupassen und zuzuhören.
Bei ADHS denken viele an den klassischen Zappelphilipp, der immer rumwuselt und andere ablenkt. Bei Mädchen ist es oft anders. Sie fallen durchs Raster.
Anna: „So richtig angeeckt bin ich nicht. Es fiel auf, dass ich zwar sehr gut in der Schule bin und sein kann. Aber wenn mir ein Fach nicht zugesagt hat oder ein Thema nicht interessant war, konnte ich plötzlich nicht mehr so gut oder wollte ich nicht mehr so gut mitmachen. Es hat mich nicht interessiert. Und dann ist es aufgefallen. In den Grundschulzeugnissen stand dann immer: „Anna kann es eigentlich. Sie sollte sich nur ein bisschen mehr anstrengen. Sie will nicht.“ Da ist es aufgefallen.“
Erst mit dem Studium beginnt es, bei Anna schwierig zu werden. Die Selbstorganisation, die das Studieren verlangt, fällt ihr schwer. Das schulische, streng kontrollierte System fehlt ihr. Sie schiebt Aufgaben lange auf, verplant Abgabefristen, es folgt ein Zusammenbruch.
Anna: „Ich bin damals zur Uni Psychologin gegangen und die hat mir gesagt, ich hätte eine Depression, weil ich antriebslos war zu dem Augenblick. Es kann auch sein, dass ich depressive Episoden hatte. Das hat dann vielleicht so mit reingespielt, aber eine Uni Psychologin hat ja nicht die Ressourcen und nicht die Kapazitäten da in die Tiefe zu gehen. Deswegen konnte sie mich da auch noch nicht so richtig diagnostizieren.
Als Anna mit Anfang 30 Mutter wird und sie merkt, dass sie Eindrücke eventuell anders verarbeitet als andere, wird sie durchs Internet auf ihre Neurodivergenz aufmerksam.
Anna: In meinem Kopf ist immer Action, da ist immer Zirkus. Ich habe quasi immer einen Soundtrack in meinem Gehirn und das führt zu unfassbarer Reizüberflutung. Und wenn dann noch ein schreiendes Baby dazukommt, dann hat das für mich so, das war ganz schlimm und ich bin dann mit meinem Alltag nicht mehr klargekommen. Ich dachte zuerst, das ist ganz normal. Alle jungen Eltern haben Probleme und alle sind irgendwie überfordert. Aber da kamen noch so viele andere kleine und große Symptome dazu, die sich so angehäuft hatten in den Jahren davor mit ständig Dinge vergessen, Fristen nicht einhalten, irgendwelche Mahnbriefe bekommen, weil man vergessen hat, Rechnungen zu begleichen. Das alles hat sich so angehäuft und irgendwann kam bei mir der Punkt, wo ich übers Internet gehört habe, dass es diese ADHS Symptome gibt und dass die sich deutlich von dem unterscheiden, was man früher als ADHS sozusagen vor allen Dingen bei Jungen und bei Männern verstanden hat. Und ich habe mir diese Artikel durchgelesen und diese Social Media Posts angeguckt und ich habe mich so wiedererkannt wie noch nie zuvor in meinem Leben.“
Nach vielen Tests und psychologischen Gesprächen steht die Diagnose fest: Anna hat ADHS. Viele Betroffene beschreiben die Diagnose als lebensverändernd. Doch zunächst löst sie bei Anna tiefe Trauer aus.
Anna: „Nach der Diagnose bin ich erstmal in ein Loch gefallen. Es kam zwar einerseits die Erleichterung, weil ich endlich eine Antwort auf die Frage hatte: Was stimmt mit mir nicht? Aber andererseits setzte eine ganz, ganz tiefe Trauer bei mir ein. Ich habe meinem Leben hinterher getrauert. So wie es vielleicht hätte sein können und besser sein können, hätte ich vorher Bescheid gewusst. Und das war ganz schlimm. Ich habe so viele Episoden in meinem Leben in meinem Kopf noch mal durchgespielt und darauf überprüft, dass das der Grund war. ADHS war der Grund, warum das und das nicht geklappt hat, warum ich in meinem Studium gescheitert bin, warum ich keine Ordnung halten kann, warum vielleicht auch einige Beziehungen, einige Freundschaften zu Bruch gegangen sind. Und ich habe erst mal lange trauern müssen und das verarbeiten müssen, bevor ich nach vorne gucken konnte mit dieser Diagnose.
Nun nimmt Anna Medikamente, die die ADHS-Symptome lindern. Und auch das Wissen um ihre Neurodivergenz hilft ihr sehr. Immer dabei hat sie ihr Handy, auf dem sie To-Do-Listen, Benachrichtigungsfunktionen und Alarme pflegt.
Anna: „Ich nutze meinen Kalender mit Benachrichtigungsfunktion und was mir noch hilft, sind so Methoden wie Body Doubling. Body Doubling bedeutet, dass man sich um eine Aufgabe gut zu erledigen, jemanden zur Seite nimmt, der einem einfach nur Gesellschaft leistet oder das Gleiche macht wie man selber. Dadurch trickst man sozusagen sein Hirn aus, dass man eine externe Kontrolle hat, obwohl man eigentlich erwachsen ist und mündig und das selber auf die Reihe kriegen sollte. Body Doubling kann tatsächlich mit einer realen Person stattfinden. In meinem Fall ist das ganz oft mein Mann.
Doch Anna hat auch einen Tipp für Menschen, die keinen Body Doubling Partner zuhause haben:
„Es gibt YouTube Videos von Menschen, die Alltagssachen machen, Aufgaben ausführen. Sie machen die Steuer, sie schreiben Hausarbeiten, sie räumen die Spülmaschine aus und man macht sich das an und lässt das nebenbei laufen. Dann hat man sozusagen parallel die Begleitung einer anderen Person und das suggeriert dem Gehirn Aha, ich bin nicht alleine dabei und ich muss mich rechtfertigen dafür, dass ich was gemacht habe, weil jemand beobachtet mich und macht dasselbe. Und ich möchte ja nicht schlecht aussehen daneben. Und dann macht man das auch. Das hilft total. Das hört sich richtig dämlich an, aber es hilft total. Das Gehirn austricksen scheint bei Menschen mit ADHS offensichtlich sehr gut zu funktionieren.