Schauer steht auf einer Leiter, die an einem Kunststofftank lehnt. Eigentlich nutzt er diesen Keller nur manchmal, für Wein aus der alten Ernte, der noch nicht verkauft wurde. Sein Vater hat den Keller in den 70er-Jahren gebaut, in besseren Zeiten, als es noch gut lief im deutschen Weinbau. Der Keller „war sein ganzer Stolz“, erzählt Schaurer. Er wollte sich eigentlich noch umziehen, bevor der Besuch kommt, das hat er nicht geschafft. Viel zu tun, wie fast immer. Schaurer trägt eine Jeanshose und ein graues T-Shirt unter der teddybraunen Fleecejacke.
Hätte ich den katastrophalen Preisverfall für Wein vorhergesehen, hätte ich die Investition erst einmal nicht gemacht.
Winzer Thomas Schaurer
Der Winzer will über die Krise im deutschen Weinbau reden, aber erst will er seinen Hof zeigen. Also raus aus dem „Restekeller“, vorbei an den mannshohen alten Weinfässern, die noch älter sind als die Kunststofftanks und die Schaurer schon vor langer Zeit aufgegeben hat. Rauf auf den Zwischenboden, wo bis Herbst 2024 noch sechs große Edelstahltanks standen, insgesamt 100 000 Liter Fassungsvermögen. Die Tanks hat Schaurer in ein neues Gebäude am Rande des Dorfes geschafft, da stehen auch Kelter und Abfüllanlage. Gut 100 000 Euro hat er in den Neubau und den Umzug investiert. Es gab einen Investitionsstau, weil er erst alte Schulden tilgen wollte. „Hätte ich den katastrophalen Preisverfall für Wein vorhergesehen, hätte ich die Investition erst einmal nicht gemacht“, sagt Schaurer heute. Damals ist noch gar nicht lange her.

2008 hat er den Betrieb von seinen Eltern übernommen. Er musste nicht, er wollte. „Ich wollte hiervon meine Familie ernähren“, sagt er. Er habe gleich auf Bio umgestellt, die Umstellung dauert drei Jahre, erst dann darf man den Wein auch als Bio labeln. Schaurer läuft kreuz und quer durch die große Halle und in einen Nebenraum, wo auf Rüttelpulten Sektflaschen stecken. Sie müssen regelmäßig gedreht werden, Schaurer zeigt, wie es geht, er kann das ziemlich schnell. Dann wieder zurück in die Halle, in der viele alte Geräte und Traktoren stehen und ein paar neue. Schaurer denkt an die Zukunft.

Er redet viel und schnell. Nur die Frage, ob er sich selbst für einen Rebellen halte, beantwortet er nicht sofort. Dann sagt er doch: „Nein, eigentlich nicht.“ Rebell, das bedeute ja, etwas zerstören zu wollen, aber er, so sagt er, will etwas erneuern: den Deutschen Weinbauverband (DWV), durch den fühlen sich einige Winzer nämlich nicht gut vertreten. Schaurer hat die Branche ziemlich aufgemischt. Aus Frust über etablierte Lobbyisten hat er im Mai 2025 die Zukunftsinitiative Deutscher Weinbau gegründet. Etwa 170 Mitglieder habe sie mittlerweile. „In Wirklichkeit sind es noch viel mehr“, sagt Schaurer. Die Initiative repräsentiere ein Produktionsvolumen von 85 Millionen Wein. Zahlreiche Unterstützer wollten „nur nicht namentlich genannt werden“.
Trinkt mehr deutschen Wein. Wir bieten Qualitäten, die locker mit Weinen aus Frankreich, Spanien oder Italien mithalten können.
Bauernpräsident Joachim Rukwied
Kaum hatte Schaurer Ende August seine Pressemitteilung verschickt, mit der Prognose, dass binnen weniger Wochen die Hälfte der deutschen Weingüter Insolvenz anmelden müsse, fühlte sich der DWV zu einer Stellungnahme veranlasst. Es bestehe kein Zweifel, dass der deutsche Weinbau in einer tiefen Krise stecke. Für Schaurers Einschätzung gebe es aber „keine belegbaren Fakten“, so der Verband. Auch Bauernpräsident Joachim Rukwied macht sich Sorgen. „Aufgrund der schlechten Marktlage gehen wir davon aus, dass wir Rebflächen in erheblichem Umfang verlieren werden“, sagte er unlängst der Rheinischen Post. Und appellierte an die Verbraucher: „Trinkt mehr deutschen Wein. Wir bieten Qualitäten, die locker mit Weinen aus Frankreich, Spanien oder Italien mithalten können.“
Wir verlieren unsere Kulturlandschaft, unsere Geschichte, unsere Identität.
Winzer Thomas Schaurer
Schaurer zeichnet ein maximal dramatisches Bild, spricht von einer existenziellen Krise. „Wenn wir jetzt nicht handeln, verlieren wir mehr als nur Rebstöcke. Wir verlieren unsere Kulturlandschaft, unsere Geschichte, unsere Identität“, sagt er. Die Internetseite der Initiative heißt „dein-wein-von-hier.de“. Darum geht es ihm auch, dass die Deutschen mehr heimische Produkte trinken. Schon eine Flasche deutscher Wein pro Kopf und Jahr statt Importware könne die Zukunft „Tausender Existenzen“ retten, behauptet Schaurer.

„Kulturgut“ und „Kulturlandschaft“ sind die Lieblingswörter der Verteidiger des deutschen Weinbaus. Schaurer nutzt sie, der Weinbauverband auch, Politiker ohnehin. 2021 fügte die Kulturministerkonferenz die Weinkultur in Deutschland zum „Bundesweiten Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe“ hinzu, zugleich mit der traditionellen Karpfenteichwirtschaft in Bayern und einigen anderen Kulturgütern. Es geht um Bräuche, Feste, Wissen, Landschaften, Redewendungen wie „reinen Wein einschenken“. Nichts anderes macht gerade Winzer Schaurer.
Und so hält es Simone Loose auch. Sie redet nichts schön, sie ist Wissenschaftlerin. In der Branche gilt sie als Schwarzmalerin. Loose leitet an der Hochschule Geisenheim das Institut für Wein- und Getränkewirtschaft. Es liegt etwas außerhalb des Campus auf einer Anhöhe. Früher war in dem Gebäude der Deutsche Wetterdienst untergebracht, eine steile Treppe führt rauf aufs Dach. Unten fließt der Rhein, rechts der Rheingau, links Rheinhessen, zwei große bekannte Weinbaugebiete. Loose hat jeden Tag vor Augen, wie sich ihr Forschungsgebiet verändert. Die 52-Jährige ist in der Nähe von Dresden aufgewachsen und hat ein Faible für Mathematik und Biologie. Im Institut könne sie beides miteinander verbinden, sagt Loose.

Sie liebt Zahlen und sie weiß, wie diffus die Datenlage ist in der Weinwirtschaft. Das Statistische Bundesamt beziffert die bestockte Rebfläche in Deutschland auf gut 103 000 Hektar im Jahr 2024. Seit 1999 hat sie sich nicht wesentlich verändert, da waren es gut 104 000 Hektar. Die Fläche ist nur ein grobes Indiz für die erzeugte Menge, denn die hängt von allerlei Faktoren ab: vom Jahrgang, von der Rebsorte und dem Alter der Rebstöcke, und dann davon, wie die Fläche bewirtschaftet wird, ob Fasswein oder Qualitätswein erzeugt wird, bei Letzterem ist die Menge geringer. Der Jahrgang spiele die entscheidende Rolle, sagt Loose. Es gebe infolge des Klimawandels mehr Wetterextreme: Trockenheit, Frost und Fäulnis in langen Regenperioden beeinträchtigen die Erträge. 2024 wurden nach Angaben des Deutschen Weininstituts (DWI) 7,8 Millionen Hektoliter produziert.
Aber wie viele Betriebe gibt es überhaupt? Wie viele Betriebe vermarkten ihren Wein selbst in Flaschen? Wie viele erzeugen „nur“ Fassweine, den sie dann an Kellereien liefern? Es gibt jede Menge Daten von sehr vielen Stellen. Und dennoch ist Branche schwer zu fassen.
Laut DWI gab es 2023 gut 14 000 Betriebe, seit 1990 ist die Zahl um fast ein Drittel gesunken. Erfasst werden in dieser Statistik nur Betriebe mit mehr als einem halben Hektar Rebfläche. Es gibt viele kleine und wenige sehr große Betriebe. Knapp 37 Prozent der Betriebe sind 0,5 bis drei Hektar groß, nicht mal ein Prozent bewirtschaftet mehr als 20 Hektar, so das DWI.
Schaurers Betrieb gehört zu den großen. Er bewirtschaftet 44 Hektar, ein Viertel gehört ihm, den Rest hat er gepachtet. Auf 40 Hektar erzeugt er Fasswein, auf vier Hektar Flaschenwein. Er hat vier feste Mitarbeiter und für die Laubarbeiten Saisonarbeiter. Schaurer ist viel auf Messen in ganz Deutschland unterwegs, er liefert den Wein selbst aus, manchmal 15, manchmal 19 Stunden am Tag.
Loose hat die Zahlen der Weinprüfstellen ausgewertet. Jeder Qualitätswein muss sich einer amtlichen Prüfung unterziehen. Erfüllt ein Wein die Kriterien, dazu zählen Farbe, Klarheit, Geruch und Geschmack, erhält er eine amtliche Prüfnummer (A.P.Nr.), die steht auch auf der Flasche drauf. Im Zeitraum von 2015 bis 2023 seien in Deutschland fast 1400 selbstvermarktende Weingüter verloren gegangen, sagt Loose, „fast ein Fünftel“. Aktuell schätzt sie die Zahl der Weingüter auf 5500. Die Menge an Qualitätswein schrumpfe kontinuierlich. Wein, der darüber hinaus geerntet werde, werde zu Sekt, aromatisierten Getränken auf Weinbasis oder alkoholfreiem Wein verarbeitet.
Wein ist ein Wohlstandsindikator.
Simone Loose, Professorin an der Hochschule Geisenheim
Die Zeit von Anfang der Neunzigerjahre bis zur Bankenkrise 2008/09 sei wirtschaftlich gut für die Winzer gewesen, obwohl auch da schon inflationsbereinigt die Durchschnittspreise sanken, erläutert Loose. Aber die Winzer konnten Effizienzgewinne erzielen, durch größere Flächen und weil vermehrt Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt wurde. Loose wertet regelmäßig die Daten von mehr als 700 Betrieben aus, die machen freiwillig mit. „Wir bekommen eher die guten, und selbst da sieht es bei vielen nicht gut aus“, sagt Loose. Den anderen Betrieben gehe es tendenziell schlechter. Viele von diesen weisen ihr zufolge noch Gewinne aus, weil sie weder einen Unternehmerlohn ansetzen noch die Kapitalkosten.
Es gibt Korrelationen zwischen der konjunkturellen Entwicklung und der Weinwirtschaft. „Wein braucht man nicht unbedingt, Wein ist ein Wohlstandsindikator. Brummt die Wirtschaft, läuft es auch in der Weinwirtschaft“, sagt Loose. In den 2010er-Jahren habe sich der Markt berappelt. Seit etwa 2019 gehe es wieder bergab. Es gibt dafür viele Gründe: „Weniger Menschen trinken Wein, die, die Wein trinken, trinken weniger“, sagt Loose. Es gibt Überkapazitäten, das sagen viele und auch Loose. Sie schätzt, es sind „mindestens 30 Prozent der Rebfläche, die nicht kostendeckend vermarktet werden“. Was dann passiert, ist reine Betriebswirtschaft: Die Nachfrage sinkt, aber das Angebot nicht. „Das führt zu einem ruinösen Preisverfall – nicht nur in Deutschland“, erläutert Loose:

Das DWI verweist auf Daten des Marktforschungsunternehmens Nielsen. Das erfasst die Einkäufe privater Haushalte im Lebensmitteleinzelhandel, im Fachhandel und beim Winzer. 4,51 Euro haben die Verbraucher 2024 laut Befragungen im Durchschnitt je Liter für deutschen Wein bezahlt. Im Einzelhandel und bei Discounter waren es 4,35 Euro, im Direktverkauf bei Weingütern lag der Preis mit 8,35 Euro deutlich höher. Die Preise für Fasswein liegen Loose zufolge etwa bei 0,60 bis 0,80 Cent pro Liter. Das ist der Preis, zu dem die Erzeuger den Wein an die Kellereien abgeben, die dann für den Handel abfüllen, erläutert Loose. „Die Rebfläche muss sinken, da führt kein Weg daran vorbei, sonst geraten die Preise noch stärker unter Druck.“ Das sagt sie seit Jahren. Und solche Sätze hören Winzer nicht gerne.
Steillagen sind richtig, richtig teuer.
Simone Loose, Professorin an der Hochschule Geisenheim
Die Produktionskosten sind Loose zufolge seit 2019 um ein Drittel gestiegen, viele Winzer arbeiteten nicht mehr kostendeckend. Es gibt große Bandbreiten, „Steillagen sind richtig, richtig teuer“, sagt Loose. „Wirtschaftlich gesehen müssten viele Winzer den Weinbau aufgegeben, aber so denken sie nicht“, sagte Loose: „Es sind viele Emotionen im Spiel und auch Romantik.“ Viele Güter seien seit vielen Generationen im Besitz einer Familie, da wolle niemand derjenige sein, der aufhört. „Die gefühlte Verantwortung gegenüber dem Erbe und der Tradition ist groß“, sagt Loose.
In den 60er-Jahre lag die Rebfläche bei 60 000 Hektar.
Simone Loose, Professorin in Geisenheim
Wein gilt als Kulturgut. Loose sieht es auch so. „Aber was ist bitte der Richtwert“, fragt sie und verweist darauf, dass die Rebfläche in den 1960er-Jahren bei 60 000 Hektar gelegen habe, also deutlich niedriger als heute. Die Professorin macht sich viele Gedanken über die Zukunft des deutschen Weinbaus. „Wir müssen jetzt ganz weit vorausdenken“, sagt sie. Von einer pauschalen Rodungsprämie hält sie nichts. Weinbaugebiet bedeute ja nicht, dass alle Flächen weinbaulich genutzt werden, sie könnten auch für den Tourismus genutzt werden. Loose stellt sich die Weinlandschaft wie ein Puzzle mit sehr vielen Teilen vor, das neu zusammengesetzt werden müsse. „Wir müssen darüber nachdenken, welche Flächen wir aufgeben und welche nicht.“ Die neuen „Kernzonen“ sollten Loose zufolge im Idealfall zusammenhängend sein, um sie weiterhin kosteneffizient bewirtschaften zu können.
Und es gebe Lagen, in denen es aus klimatischen Gründen in 30 bis 40 Jahren kaum noch Weinbauanbau geben werde. Sie meint damit Steillagen, in denen die Böden das Wasser nur schlecht halten können, oder Gebiete in Franken, Saale-Unstrut und Sachsen, die jetzt schon in manchen Jahren stark unter Hitze und Trockenheit leiden. „In den nächsten zehn Jahren wird die Hälfte der Winzer aufgeben“, erwartet Loose.

Thomas Schaurer hat lange in der großen Halle im Hof gestanden. Er will jetzt noch die neuen Gebäude zeigen am Ortsrand. Aber erst einmal hält er an seinen Weinbergen. In den Parzellen, die mit Vollerntern geerntet werden, hängen an den Stöcken nur noch die schwarzen Stiele der Trauben. Er zieht Grauburgunder, Sauvignon Blanc, Riesling, Dornfelder und einige andere Rebsorten. Bis zur neuen Halle sind es jetzt nur noch ein paar Schritte. Draußen stehen glänzende Edelstahltanks, in denen der Wein gärt. Und drinnen füllen Winzer auf Schaurers Anlage Glühwein ab.
Er denkt darüber nach, die Produktion von Fasswein einzustellen, weil die sich überhaupt nicht mehr lohne. Die vier Hektar, auf denen er Flaschenwein erzeugt, könne er mit seiner Frau allein bewirtschaften. „Davon könnte meine Familie leben“, sagt er. „Aber ich bringe es nicht übers Herz, alle meine Leute zu entlassen.“
