
Wenn es mit der Entwicklung Afrikas wieder einmal nicht so recht vorangeht, könnte eine der Ursachen dafür im tiefsten Neukölln liegen. Dort ist eine Frau am Werk, die wie im schönsten Klischeebilderbuch aus dem beschaulichen Schwabenland in einen Berliner Problembezirk zog, vorher aber in Bayreuth Geografische Entwicklungsforschung Afrikas studierte, eine Unterdisziplin der Humangeografie. Nach dem Bachelor hörte sie jedoch auf ihr Herz, überließ Afrika sich selbst und entschied sich für den Beruf der Köchin. Und da es ihr an Patent wahrlich nicht mangelt, bewarb sie sich bei lauter Sternerestaurants, ohne jemals in ihrem Leben in einem solchen Etablissement gegessen zu haben. Michael Kempf und Joachim Gerner vom „Facil“ in Berlin nahmen sie mit Handkuss, es folgten weitere Stationen in Deutschland, Spanien und der Schweiz und 2016 schließlich die Selbständigkeit in Neukölln. Seither geht es vielleicht nicht mit Afrika, dafür aber mit der kulinarischen Entwicklung des Berliner Döner-Köfte-Currywurst-Bezirks stetig voran.
Kochen ohne kulinarische Girlanden
Das ist in aller Kürze die Geschichte von Sarah Hallmann, deren Familie einen Bauernhof mit Ackerbau und Viehzucht betrieb und deren Großmutter jeden Tag mit den eigenen Viktualien für die ganze Mischpoke frisch kochte. So lernte Hallmann schon als Kind, was gute Lebensmittel und wann sie am besten sind, wie schön das Einfache sein kann und wie viel Spaß das Kochen macht – prägende Erinnerungen, die heute auf ihren Tellern unmittelbaren Niederschlag finden und uns schon bei den Küchengrüßen begegnen. Ein Miniatur-Langos mit Crème fraîche, Knoblauch-Chips und Schnittlauchblüten, ein Wildkräutersalat mit Thai-Basilikum-Vinaigrette und Sellerie oder eine Kartoffelcreme mit Eigelb, Imperial-Kaviar und ausgelassenem Knochenmark verweigern sich allem Brimborium, verzichten auf jede kulinarische Girlande und singen stattdessen das Loblied eines kulinarischen Minimalismus, der es freilich nur auf den ersten Blick ist.

Sarah Hallmann untertreibt gerne. Sie legt eine Scheibe besten Jamón Ibérico auf einen fetten Thunfischbauch, schmuggelt als verbindende Elemente Erbsen und Liebstöckel-Mayonnaise dazwischen, ergänzt das Ganze mit Dashi und dem japanischen Ingwer Myoga – und tut so, als serviere sie uns einen kleinen Imbiss und nicht eine wunderbar harmonische Neuköllner Variante des klassischen „mar y montaña“. Miesmuscheln der Maison Morisseau aus der Bucht des Mont-Saint-Michel kombiniert sie mit einer Creme und einem luftigen Schaum von Gorgonzola für den Tiefenkontrast, Chili für das Spiel mit dem Feuer, Frühlingszwiebeln für den Biss, einer Langustinen-Essenz für die Finesse – und nobilitiert damit ganz unaufgeregt, ganz selbstverständlich einen Klassiker der französischen Hausmannskost zu einem fein austarierten Aromen-Mobile, ohne sich selbst zur Zeremonienmeisterin mit Zampano-Allüren aufzuspielen.
Der Michelin-Stern war unvermeidlich
Solches Gebaren ist Sarah Hallmann völlig fremd. Sie kocht, wie sie ist, und ist, wie sie kocht, und niemals erweckt sie den Eindruck, etwas zu tun, was sie nicht tun will. Anfangs wollte sie nur eine gute Bistro-Küche mit Mittagstisch anbieten – gemeinsam mit Frau Klee, die aber schon nach wenigen Monaten verschwand, doch der Name blieb, weil er „so schön seriös nach Anwaltskanzlei klingt“, wie Hallmann sagt. Rasch wurde sie in der ganzen Stadt für ihr Frühstück bekannt, bekam dann aber Lust auf das anspruchsvolle Kochen, konzentrierte sich mit der Zeit immer stärker auf den Abend, bot irgendwann nur noch Sechs-Gang-Menüs an und konnte nicht vermeiden, dass ihr der Guide Michelin im vergangenen Jahr einen Stern verlieh. In der ersten Zeit sei das ein großer Schrecken gewesen, sagt die Köchin ganz ohne Koketterie, mittlerweile habe sie sich daran gewöhnt, und dass die Auszeichnung selbst im proletarisch-islamischen Neukölln nicht unbedingt eine abschreckende Wirkung hat, können wir mit eigenen Augen bezeugen: Der Laden ist rappelvoll, die Stimmung ausgezeichnet und die Chefin als Mutter und Inhaberin eine Schwester im Geiste von Hans Dampf in allen Gassen, die anstandslos den Herd ihrer Sous-Chefin überlässt und den Service übernimmt, wenn Not an der Frau ist.

Augen und Ohren hat sie selbst dann natürlich immer noch in der Küche und sorgt dafür, dass alles genauso auf den Tisch kommt, wie sie es will: das Kartoffelpüree nach einem Rezept ihrer Großmutter, das an Joël Robuchons legendäre Butterorgie erinnert und mit nichts weiter als Molke-Schaum und Liebstöckel-Öl wie ein Hochamt der heilen Welt serviert wird, wie ein Triumvirat des einfachen, aber keinesfalls einfältigen Glücks; oder die handgerollten Gnocchetti sardi mit der scharfen italienischen Streichwurst Nduja, mariniertem Carabinero in Fenchel-Öl und einer weißen Tomatenwasser-Beurre blanc, ein Gericht, das jeder verstehen und jeder genießen kann; oder das Poltinger Lammfilet mit geschmorter bretonischer Roscoff-Zwiebel, das sich selbst vollkommen genügt und – eine Hommage an Neukölln – zusätzlich von einer Köfte aus der Lammschulter mit Minze, Chili und Ayram-Schaum begleitet wird. Das sind spektakulär gute Teller, die auf jedes Spektakel verzichten und trotzdem oder gerade deswegen zu Herzen gehen.
Man braucht kein Feinschmeckerdiplom, um im „Hallmann & Klee“ seinen Spaß zu haben. Dennoch begreift jeder, dass Desserts wie die Creme aus dem japanischen Süßreis Fukkurinko mit Johannisbeere, Himbeere, Waldmeister, rosa Pfeffer und einem Granité aus Rosenblättern und Litschi oder die Haselnuss mit Steinpilzpulver und Vollmilcheis hochkomplexe Kreationen sind, hinter denen eine lange kulinarische Entwicklungsarbeit steckt. Und deswegen ist dieses Restaurant, das eines der günstigsten Ein-Sterne-Menüs in Deutschland anbietet, eine fabelhafte Himmelsleiter, die aus den Sphären einer sehr guten Küche in jene des allerbesten Kochens führt – noch eine Rarität in unserem Land und doch schon ein Vorbild für die Zukunft.
