
In der Silvesternacht 2024/25 explodiert eine Kugelbombe zwischen den Beinen eines 7-Jährigen. Er überlebt nur knapp. Nach 40 Operationen spricht seine große Schwester zum ersten Mal öffentlich über das, was ihrem Bruder passiert ist – und wie es ihm heute geht.
„Ich glaube, ich sterbe jetzt.“ Das waren die letzten Worte des 7-jährigen Jungen, nachdem eine Kugelbombe vor ihm explodiert war. Dann verlor er das Bewusstsein. So erzählt es seine Schwester Cansu Karki fast ein Jahr nach dem tragischen Vorfall, der sich in der vergangenen Silvesternacht in Berlin ereignete. Dass er überlebt hat, grenzt an ein Wunder, sagen die Ärzte.
In der Silvesternacht 2024/25 hatte es in Berlin mehrere schwerwiegende Vorfälle mit Kugelbomben gegeben. In einem Wohnhaus zersprangen die Fenster, mehrere Menschen wurden verletzt. Deutschlandweit starben fünf Männer bei Böller-Unfällen, einer davon durch eine Kugelbombe.
„Kugelbomben sind keine normalen Feuerwerkskörper. Das sind Sprengkörper, die töten und Leben bedrohen können“, sagt Karki, die selbst Ärztin an der Charité ist, der Deutschen Presse-Agentur. Ihr Bruder musste mehr als 40 Mal operiert werden. „Wir haben irgendwann aufgehört zu zählen.“ Die Familie hat lange gebraucht, um öffentlich über die Ereignisse sprechen zu wollen und zu können. Über die dramatischen Stunden im Krankenhaus, das Bangen um sein Überleben, Monate auf der Intensivstation und die Wut.
Die große Schwester war bei dem Unfall nicht dabei. Kurz nach Mitternacht erhielt sie einen Anruf. „Komm bitte sofort in die Rettungsstelle. Deinem Bruder geht es nicht gut.“ Sie sei sofort losgefahren. Was genau passiert war, erfuhr sie erst einige Tage später, als ihre Mutter ihre Worte wiederfand.
Ihr kleiner Bruder hatte Silvester zusammen mit den Eltern, dem älteren Bruder (22) und dessen Frau verbracht. Insgesamt sind es vier Geschwister, der kleine Bruder ist das Nesthäkchen. Wie jedes Jahr sei die Familie um Mitternacht vor die Tür gegangen, um sich das Feuerwerk anzuschauen. Der Emstaler Platz liegt in Tegel, einem nördlichen Stadtteil von Berlin, und ist an zwei Seiten von Wohnhäusern und Geschäften umgeben.
Die Kugelbombe explodierte zwischen seinen Beinen
„Es habe einen lauten Knall gegeben, danach sei plötzlich alles stockdunkel gewesen, man habe überhaupt nichts mehr sehen können“, gibt Karki die Schilderungen ihrer Mutter wieder. „Meine Mutter hat sofort nach meinem Bruder geschrien und nur gesehen, wie er zu Boden stürzte.“ Kurz darauf habe es einen zweiten Knall gegeben. Die Kugelbombe explodierte zwischen den Beinen des Jungen, so erzählt es die Schwester heute.
Kugelbomben sind Feuerwerkskörper mit extremer Sprengkraft. Nur staatlich geprüfte Pyrotechniker mit Erlaubnis dürfen sie abbrennen. Bei fachgerechter Nutzung werden die Bomben mit speziellen Rohren mittels einer Treibladung aus Schwarzpulver in den Himmel geschossen. Doch immer wieder kommt es vor, dass Privatpersonen die Bomben illegal explodieren lassen.
Der kleine Junge aus Berlin wäre durch die Wucht der Explosion fast gestorben. „Er hatte so viel Blut verloren, dass er vor Ort fast verblutet wäre“, sagt Martina Hüging, Kinderchirurgin an der Universitätsmedizin Charité und mitbehandelnde Ärztin. Bekannte versuchten sofort, den damals 7-Jährigen wiederzubeleben. Schnell wurde er in die Notaufnahme der Charité am Campus Virchow-Klinikum gebracht. Dass diese nicht zu weit weg lag, rettete ihm vermutlich das Leben, sagt Hüging. In einer ländlichen Region hätte es anders ausgehen können.
Verletzungen wie aus Kriegsgebieten
„Er hatte schwerste Verletzungen, die man sonst eigentlich nur von Berufsunfällen kennt, zum Beispiel bei schweren Gasexplosionen oder aus Kriegsgebieten.“ Seine Beine wurden durch die Explosion regelrecht zerfetzt. Muskeln und Knochen lagen frei und wurden zum Teil zertrümmert, dazu kamen Verbrennungen und offene Wunden auch an den Händen.
„In den ersten Tagen war das eigentlich von Tag zu Tag die Frage, ob er überleben wird“, so Hüging. „Das war eine hochdramatische Situation.“ Sie habe noch nie derart schwere Verletzungen durch Feuerwerkskörper gesehen. Einige Tage nach Silvester kam es infolge der Verletzungen außerdem zu einer schweren Hirnblutung, sodass in einer Notoperation ein Teil der Schädeldecke des Jungen vorübergehend entfernt werden musste.
Über einen Monat lang lag er im künstlichen Koma, wurde beatmet und bekam dafür einen Luftröhrenschnitt. Auch ein künstlicher Darmausgang musste aufgrund der großflächigen Wunden angelegt werden. Das Ziel sei zunächst das Sichern seines Überlebens gewesen und zugleich habe man versucht, seine Beine zu retten, sagt Hüging. Beides ist dem interdisziplinären Ärzteteam der Charité gelungen.
Ende Januar erwachte der Junge langsam aus dem künstlichen Koma. Mitte Februar sagte er seinen ersten vollständigen Satz: „Ich habe Hunger auf Burger.“ Später kamen die Fragen. Warum sehen meine Beine so aus? Warum hat es mich getroffen?
„Er hat die ganze Zeit gefragt, was passiert ist“, erzählt seine Schwester. „Er ist für sein Alter ein sehr reifes Kind und begreift Sachen sehr schnell.“ Nach und nach erzählt seine Familie ihm, was vorgefallen war. An den Knall könne er sich noch erinnern, danach an nichts mehr.
Tatverdächtiger war damals 17
Ein damals 17-Jähriger steht im Verdacht, kurz nach Mitternacht inmitten einer Menschenmenge „den pyrotechnischen Gegenstand in einem Abschussrohr aus Glasfaserkunststoff gezündet zu haben“, wie es seinerzeit von Polizei und Staatsanwaltschaft hieß. Im Januar gab es bei dem Tatverdächtigen eine Untersuchung. Die Ermittlungen dauern an. Der Familie dauert das alles zu lange. Sie habe das Gefühl, der Fall werde nicht mit ausreichend Priorität behandelt, sagt Karki.
Ihr Bruder ist inzwischen 8 und hat sich ins Leben zurückgekämpft. Nach vier Monaten konnte er im April aus dem Krankenhaus entlassen werden und kam in die Reha. Inzwischen geht er wieder in die Schule. „Ihm geht es zum Glück gut“, sagt Karki. „Er ist sehr fröhlich, er ist aktiv, lacht viel und hat immer viel Redebedarf.“ Er könne wieder laufen und brauche keinen Rollstuhl mehr. Was bleibt sind die Narben an den Beinen. Er sei ängstlicher als früher. „Nachts kann er nicht alleine schlafen.“ Er gehe regelmäßig in die Traumaambulanz der Charité.
Nachuntersuchungen und Kontrollen werde er sein Leben lang machen müssen, sagt Hüging. Vor allem die großen Narben an den Beinen müssten gut gepflegt und vielleicht auch noch einmal operiert werden, aber: „Er wird ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben führen können.“
Die Verletzungen ihres Bruders sieht Karki nicht als Schicksal, sondern als Versagen der Politik. Deren Aufgabe sei es, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Es brauche ein höheres Bewusstsein und mehr Aufklärungsarbeit über die Gefahr von Kugelbomben, fordert sie.
„Ich möchte einfach nicht, dass ein weiteres Kind oder eine weitere Familie das durchmachen muss, was mein Bruder und wir als Familie erlebt haben.“ Dieses Jahr verbringt die Familie Silvester im Ausland.
dpa/rc
