Die Vierschanzentournee steht vor der Tür – in einem Winter, dessen Höhepunkt die Olympischen Spiele im Februar sind. Insofern gelten die Springen in Oberstdorf, Garmisch, Innsbruck und Bischofshofen auch als Gradmesser für die Form, mit der die Athleten Richtung Olympiaschanze in Val di Fiemme reisen. Doch wie gut sind die deutschen Springer inmitten der Krise ihrer Galionsfiguren Karl Geiger und Andreas Wellinger in Form? Wer sind die Favoriten? Dürfen die Frauen auch endlich auf vier Schanzen springen? Und was ist aus dem Anzugskandal geworden? Die wichtigsten Fragen und Antworten zur 74. Auflage des Skisprung-Grand-Slams.
Wer sind die Favoriten?
Bei der jüngsten Vierschanzentournee dominierten die Springer aus Österreich um Sieger Daniel Tschofenig, Stefan Kraft und Jan Hörl fast nach Belieben. Ihr Endergebnis vor einem Jahr: Tschofenig 1194,4 Punkte, Hörl 1193,0, Kraft 1190,3 – welch ein Herzschlagfinale. Der viertplatzierte Norweger Johann André Forfang lag mehr als 40 Punkte hinter Tschofenig zurück. In diesem Winter hat sich der Wind allerdings gedreht. Der Slowene Domen Prevc war bislang im Weltcup fast nicht zu schlagen, gewann fünf Springen nacheinander – bis der Japaner Ryoyu Kobayashi Prevc’ Serie in Engelberg durchbrach. Die Topfavoriten Prevc und Kobayashi, der die Tournee 2019, 2022 und 2024 gewann, führen den Gesamtweltcup an, vor Prevc’ Landsmann Anze Lanisek, einem weiteren Mitfavoriten in diesem Jahr.
Gewinnt Kobayashi erneut, schließt er mit vier Siegen zu Jens Weißflog auf. Nur ein Springer war bisher besser in der Historie der Reise von Oberstdorf über Garmisch, Innsbruck nach Bischofshofen: Janne Ahonen hat den goldenen Adler für den Sieger fünfmal in die Höhe gestemmt. Die Österreicher Tschofenig, Kraft und Hörl sollte man aber nicht unterschätzen: Auch im vergangenen Jahr starteten sie wie jetzt aus der Verfolgerrolle – das Ergebnis ist bekannt. Geheimfavoriten gibt es natürlich auch: Ren Nikaido aus Japan ist so einer, und, ja wirklich, die Deutschen Felix Hoffmann und Philipp Raimund. Sie sind zuletzt gleich mehrmals aufs Podest gesprungen.
Was ist mit den Deutschen?

So unterschiedlich der eher leise Hoffmann, 28, und der eloquente Raimund, 25, charakterlich sind, sie eint doch eines. Ausgerechnet im Olympiawinter trägt sie der bislang mächtigste Aufwind ihrer Karriere. Sie haben gerade jenes Fluggefühl und Selbstbewusstsein, das sie weit nach vorne tragen kann – auch wenn es verwegen wäre, sie nun schon als potenzielle Nachfolger des letzten deutschen Tournee-Siegers Sven Hannawald zu sehen. Von den in diesem Winter formschwachen Andreas Wellinger, 30, und Karl Geiger, 32, redet dagegen kaum jemand, wenn es um ein Mitspracherecht um die vorderen Plätze geht. Bundestrainer Stefan Horngacher sagte kurz vor Weihnachten: „Auf die Tournee hin, glaube ich, brauchen wir uns jetzt keine großen Hoffnungen machen.“ Pius Paschke, 35, ist von seiner Winterform aus dem vergangenen Jahr ebenfalls ein gutes Stück entfernt. Vielleicht springt aber auch in ganz anderer aus dem DSV-Lager in den Mittelpunkt: Vladimir Zografski. Der ist zwar Bulgare, trainiert aber bei den Deutschen mit, die den kleinen Verband unterstützen. Bei der WM in Trondheim wurde der 32-Jährige immerhin Neunter von der Normalschanze.
Reden immer noch alle über den Anzug?

Seit den Weltmeisterschaften in Trondheim, wo es Anfang März zum wohl größten Skandal der jüngeren Skisprunggeschichte gekommen war, hat sich vieles am für den Flug so entscheidenden Anzug verändert. Damals hatte sich die norwegische Mannschaft bei der Manipulation der Anzüge ihrer Topspringer erwischen lassen. Das Trainer- und Betreuerteam wurde seither weitgehend ersetzt, die Springer Marius Lindvik und Johann André Forfang wurden im Sommer für drei Monate suspendiert, sie haben ihre Strafe abgesessen. Lindvik durfte zudem seinen Einzel-WM-Titel von Trondheim behalten. Viele Springer und Trainer anderer Nationen fanden die Sperre zu kurz und den Umgang mit der Affäre halbherzig. Lindvik schoss zurück: „Diejenigen, die am lautesten schreien, sind diejenigen, die am schlimmsten waren.“
Inzwischen wollen die meisten in der Szene nicht mehr über das Thema reden, Bundestrainer Horngacher resümierte: „Das Thema ist durch. Also es diskutiert jetzt Gott sei Dank niemand mehr darüber.“ Immerhin, es tut sich was: Inzwischen muss der Anzug enger sein, außerdem gibt es schärfere Materialkontrollen und härtere Strafen – samt gelben und roten Karten. Der Weltverband Fis setzte den früheren österreichischen Springer Mathias Hafele als neuen hauptamtlichen Materialkontrolleur ein, ein von Trainern wie Athleten hochgelobter und geschätzter Anzugfachmann.
Was ist mit den Frauen?

Sie sind immer noch nicht gleichberechtigt bei der Vierschanzentournee. Warum? Weil sie keine Vierschanzentournee haben. Dafür tragen sie zum dritten Mal die sogenannte Two-Nights-Tour aus, mit Stationen in Garmisch-Partenkirchen (31. Dezember) und Oberstdorf (1. Januar). Über die Terminierung darf man streiten, schließlich startet gut zwei Stunden vor Beginn der Frauen-Entscheidung in Oberstdorf das Neujahrsspringen der Männer in Garmisch, das die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Aber es gibt Hoffnung: Im Winter 2026/27 soll auch die bislang letzte verbliebene flutlichtlose Schanze der Tournee am Bergisel in Innsbruck endlich erstrahlen. Der Weg für eine Vierschanzentournee der Frauen, der bislang auch wegen des fehlenden Flutlichts und eng getakteten Zeitplans utopisch erschien, wäre damit geebnet. „Das wäre schon ein ziemlich großer Schritt, aber nicht der letzte Schritt“, sagte die DSV-Springerin Katharina Schmid, 29, kurz vor Weihnachten: „Ich glaube, da müsste schon noch mehr passieren, damit wir wirklich gleichberechtigt sind.“ Zum Beispiel finanziell.
Denn bei der Bezahlung hinken die Frauen weiter hinterher. Zwar wurde ihr Preisgeld im Vergleich zur vergangenen Saison leicht auf 5000 Euro für einen Weltcupsieg angehoben, aber auch das der Männer wurde erhöht, auf nun 15 000 Euro für den Gewinner eines Weltcups. Immerhin gehören Peinlichkeiten wie im zurückliegenden Winter wohl der Vergangenheit an. Damals bekam Selina Freitag als Siegerin der Qualifikation in Garmisch ein Duschgel und vier Handtücher als Preis – der Männer-Qualifikationssieger Jan Hörl erhielt 3000 Schweizer Franken. Freitag brachte eine Debatte ins Rollen, als sie ihren, nun ja, Gewinn öffentlich machte. Am ersten Weihnachtsfeiertag 2025 verkündete der DSV nun: „Erstmals wird bei den Damen auch die volle Quali-Prämie vergeben.“ Immerhin ein wenig Rückenwind für die Frauen auf dem Weg zur Gleichbehandlung.
Sportlich ruhen die größten deutschen Hoffnungen auf Freitag und auf Agnes Reisch, 26; die siebenmalige Weltmeisterin Katharina Schmid hat in ihrer voraussichtlich letzten Saison noch Probleme. International hat die slowenische Dauersiegerin Nika Prevc, 20, ernsthafte Konkurrenz bekommen: Die Japanerin Nozomi Maruyama, 27, führt mit großem Abstand vor Prevc das Ranking an.
Starten „Neutrale Athleten“ aus Russland?

Die Fis hat zwei Tage vor Weihnachten zwei russischen Skispringern den Status eines neutralen Athleten gewährt. Danil Sadrejew, 22, aus Tatarstan, und Michail Nasarow, 31, aus Moskau, dürfen damit von sofort an wieder an Weltcups teilnehmen – auch bei der Vierschanzentournee, deren Springen als Weltcups zählen. Ob sie tatsächlich bei der Qualifikation für den Auftakt in Oberstdorf am 28. Dezember dabei sind, ist noch unklar. Sadrejew gewann 2022 bei den Olympischen Spielen in Peking Silber mit dem russischen Mixed-Team. Russlands bester Skispringer Jewgeni Klimow hat dagegen noch keinen neutralen Status erhalten. Es wäre der erste Start russischer Athleten seit Ende Februar 2022 – Gegenwind von den Rängen ist vorstellbar. Die Fis hatte damals russische und belarussische Athleten wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine von allen Wettkämpfen ausgeschlossen. Der Internationale Sportgerichtshof Cas hatte Anfang Dezember zwei Klagen aus Russland und Belarus gegen die Fis teilweise stattgegeben. Demnach dürfen Athleten der beiden Länder unter neutralem Status an Fis-Qualifikationswettkämpfen für die Winterspiele 2026 teilnehmen, sofern sie die Kriterien des Internationalen Olympischen Komitees erfüllen – also beispielsweise den Krieg gegen die Ukraine nicht öffentlich unterstützen und keine Verbindungen zum Militär haben.
Gibt es noch Tickets? Und wer überträgt?

Für den traditionell seit Wochen ausverkauften Auftakt auf der Schattenbergschanze in Oberstdorf gibt es nur noch Tickets für die Qualifikation am 28. Dezember; für das Springen tags darauf nur noch Stehplätze für Kinder unter sieben Jahren. Für Garmisch waren am Freitag noch Stehplatztickets fürs Neujahrsspringen erhältlich, für die Two-Nights-Tour der Frauen gab es noch genügend Karten. Wer in Innsbruck zuschauen will, muss sich mit einem VIP-Ticket für schlappe 588 Euro pro Person anfreunden können – die restlichen Karten sind vergriffen. Für die Qualifikation gibt es, wie an allen anderen Stationen, noch reichlich Platz im Stadion. Für die letzte Station in Bischofshofen sind noch Tickets mehrerer Kategorien nicht nur für die Quali, sondern auch fürs entscheidende Springen dieser Tournee auf der Paul-Außerleitner-Schanze verfügbar (ab 36 Euro für Erwachsene/18 Euro für Kinder).
Wer die Tournee doch lieber gemütlich vor dem Fernseher verbringen möchte: In Deutschland überträgt die ARD das Auftaktspringen in Oberstdorf (29. Dezember) und das Tournee-Finale in Bischofshofen (6. Januar) sowie die dazugehörigen Qualifikationen. Das ZDF übernimmt mit dem Experten Severin Freund das Neujahrsspringen in Garmisch und das Bergiselspringen in Innsbruck (4. Januar), ebenfalls mit den Qualifikationen am jeweiligen Vortag.
Auch bei Eurosport (das sich die Experten Sven Hannawald, Martin Schmitt und Markus Eisenbichler mit der ARD teilt) und Discovery+ gibt es Liveübertragungen im TV und im Stream, außerdem bei Dazn. In Österreich werden alle vier Qualifikationen und Springen live auf ORF 1 übertragen. In der Schweiz laufen die vier Tournee-Wettkämpfe in SRF zwei.
