Der Münchner „Tatort: Das Verlangen“

Wer an Qualitätsmängel gewöhnt ist, neigt schnell dazu, Passables für sehr gut zu halten. Zum Beispiel beim „Tatort“. Die Münchner Folge mit dem Titel „Das Verlangen“ ist ein für ARD-Verhältnisse vorzeigbares Kammerspiel, mehr nicht. Aber weil die jüngsten Episoden (zum Beispiel Stuttgart und Berlin) noch nachwirken, sind wir bereit, hier mehr Lob zu verteilen, als angemessen wäre.

Der Fall in Kürze: Während einer Aufführung von Anton Tschechows „Möwe“ am Residenztheater bricht die Schauspielerin Nora Nielsen (Giulia Goldammer) auf offener Bühne tot zusammen. Überdosis. Tilidin. Wahrscheinlich Mord. Für die Ensemblekollegen gilt: einer verdächtiger als der andere. Ermittelt wird so, wie es Aristoteles gefallen hätte – die Einheit von Ort, Zeit und Handlung wahrend. Also neunzig Minuten lang im Theater.

Das wäre natürlich etwas fürs Uniseminar, wie auch der Umstand, dass hier laufend Schauspieler, die Filmfiguren verkörpern, über andere von Schauspielern verkörperte Filmfiguren reden, die wiederum im Film, dem „Tatort“, Theaterschauspieler und im wahren Leben Theater- und Filmschauspieler sind. Dabei beobachten die Kommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec), Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und deren Sidekick Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) nicht nur, wie sich die Dinge backstage entwickeln. Man hat den Eindruck, sie beobachten sich gegenseitig beim Beobachten, was Luhmann-Leser in Wallung bringen dürfte.

Oh, oh, jetzt wird’s ernst

Es geht, mit anderen Worten, hintersinnig und postmodern zu. Regisseur Andreas Kleinert und seine Drehbuchschreiber Norbert Baumgarten und Holger Joos freuen sich augenscheinlich über ihre Einfälle, und man muss ihnen zugutehalten, dass sie den Bogen kaum überspannen. Manchmal ist zum Beispiel nicht ganz klar, ob die Rede der Theaterschauspieler an die Ermittler gerichtet ist, oder ob es sich um Zitate aus der „Möwe“ handelt – ein naheliegender, hier aber gut dosierter Irritationskniff.

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Launig sind die Dialoge obendrein. Batic: „Ich hatte mal ’ne befreundete Bekannte, die wollte Schauspielerin werden.“ Ensemblemitglied Gina Rohland (namentlich angelehnt an Gena Rowlands, dargestellt von Ursina Lardi): „Und?“ Batic: „Die ist heute Physiotherapeutin.“ In der nächsten Szene dann Leitmayr: „Schauspieler, was? Verdienen ihr Geld damit, dass sie einem Geschichten erzählen… Ich hab auch mal eine gekannt, ich hoffe, ich sehe die nie wieder.“ Batic: „Der geht’s vermutlich genauso.“ Leitmayr: „Das war eigentlich gar keine richtige Schauspielerin, die hat bloß Fernsehen gemacht.“

Die Kommissare haben keinen einfachen Job. Es dauert mehr als zehn Minuten, bis sie zum ersten Mal erscheinen, und die Art wie sie, quasi zur Begrüßung, das riesige Theatertor aufstemmen, gibt einen Vorgeschmack auf die Ermittlung. Als Kripowinzlinge stehen sie in einer dunklen Halle, die sie zu verschlucken scheint. Sobald dann noch die Tür hinter den beiden knarzend ins Schloss fällt, denkt sich der Zuschauer: Oh, oh, jetzt wird’s ernst.

„Ich spür’s nicht“

Tatsächlich ist der „Tatort“ eine klamauk-, aber keine ironiefreie Zone, er zeigt moralisches Versagen, will gleichwohl keine moralische Anstalt sein, er umkreist die Wirrungen des normalmenschlichen Umgangs, diktiert uns dazu jedoch keine Haltung. Bei alldem erweist sich das Theater als so unübersichtlich wie der Fall. Batic und Leitmayr, die immer ein bisschen bedient gucken und von einer nie abzuschüttelnden Comedy-Aura umgeben sind, irren durchs Gebäude, als handle es sich um ein Labyrinth („Wer hat denn dieses Theater gebaut? Kafka?“). Das passt zum Plot, der sich an die Konventionen des „Whodunit“ hält und dabei ein immer verklebteres Gespinst von Eitelkeiten, Schikanen, Affären, Eifersucht, Neid und Konkurrenzdruck offenlegt.

Die abgearbeiteten Theaterklischees wirken mitunter verschmockt, sind aber punktgenau platziert, etwa wenn Regisseur Akim Birol (Thiemo Strutzenberger) eine Szene proben lässt und anschließend sagt: „Ich spür’s nicht.“ Kleine Auseinandersetzung. Dann Carl Silbermann (Lukas T. Sperber): „Du bist doch nur hier am großen Haus, weil du schwul bist. Und Türke.“ Leitmayr an anderer Stelle: „Wir sind hier am Theater, da hat jeder was mit jedem.“

Schluss- und Höhepunkt ist eine zwölfminütige Enthüllungsszene auf der Bühne. Wer hat was warum getan? Und was hat das Ganze mit dem sechs Monate zurückliegenden Suizid einer Schauspielerin im selben Haus zu tun? Mehr Agatha Christie lässt sich in einem „Tatort“ nicht unterbringen. „Das Verlangen“ ist offiziell der 97. Fall der Münchner Ermittler. Aufgrund eines Tauschs wird er als Nummer 98 ausgestrahlt. Der Abschied folgt im kommenden Jahr in Form einer Doppelepisode, und man bereitet sich schon einmal darauf vor. Nach einer halben Stunde sagt nämlich ein von Robert Kuchenbuch gespieltes Mitglied des Ensembles zu Leitmayr: „Wenn Sie aufhören, irgendwann Mörder zu suchen, wird’s irgendjemand anderes tun, und keinen interessiert’s.“ Zum Schluss hat er sich das noch mal überlegt: „Vielleicht werden die Leute Sie doch vermissen, wenn Sie irgendwann nicht mehr da sind.“

Der Tatort: Das Verlangen läuft am zweiten Weihnachtstag, Freitag, 26. Dezember, um 20.15 Uhr im Ersten.