Elektroschrott in Ghana: Für eine Handvoll Kupfer

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ie Rauchsäulen über einer der größten Elektroschrotthalden der Welt sind schon aus der Ferne zu sehen. An einem steilen Abhang reiht sich eine Feuerstelle  an die andere. Der schwarze Rauch zieht in dicken Schwaden über den Fluss, erst beim Näherkommen sind Männer zu erkennen, die mit langen Stöcken die Feuer schüren und auf jede kleine Änderung der Windrichtung reagieren. Einige haben Wassertüten zwischen den Zähnen. Mit dem Wasser kontrollieren sie die Feuer und kühlen sich selbst zwischendurch ab. 

Die Elektroschrotthalde in Agblogboshie verseucht die Luft, den Boden und die Gewässer.

Man nennt sie „Burner Boys“. Auf der Halde, nicht weit vom Zentrum von Accra, Ghanas Hauptstadt, gehen sie ihrer Arbeit nach. Sie  verbrennen die Plastikumhüllung von Kabeln, um an die Drähte aus Aluminium und vor allem an Kupfer zu gelangen. In den vergangenen Jahren hat der Preis für das rötliche Metall immer wieder Rekordniveaus erreicht. Gleichzeitig entsteht auf der Welt mehr und mehr Elektroschrott. Für die arme Bevölkerung in afrikanischen Ländern macht das Halden wie jene in Accra zu sprichwörtlichen „Goldminen der Neuzeit“. 

Salasi, Mitte Zwanzig, Jeans, helles Hemd, legt eine Pause ein und setzt sich einige Meter weiter auf ein altertümliches Motorrad. Selbst hier ist der Rauch ätzend. Er habe permanent mit geröteten und schmerzenden Augen zu kämpfen, sagt Salasi: „Das kann man nicht ewig machen.“ Besondere Sorgen macht er sich um seine Lunge, denn er ist Musiker. Reggae, was auch sonst in Ghana? Salasi ist sein Künstlername. Sein Kumpel Abdulai-Yakubu kommt hinzu. Er würde lieber Motorräder reparieren. Damit kennt er sich aus. Aber erst einmal stecke er hier fest, sagt er und lässt den Blick über die künstliche Landschaft schweifen, wo der Rauch alle Farben in Grau verwandelt. 

Ein Höllenjob: „Burner Boys“ verbrennen Kabel, um an die Drähte aus Kupfer und Aluminium zu gelangen.

Der Stadtteil Agbogbloshie am Rande von Accra hat schauerliche Berühmtheit als Müllhalde der Welt erlangt. Kaputte Smartphones, Laptops und Spielekonsolen landen hier, Kühlschränke, Klimaanlagen und Autokatalysatoren. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen, dem E-Waste Monitor 2024, wurde im Jahr 2022 rund um den Globus eine Rekordmenge von 62 Millionen Tonnen Elektronikschrott produziert. Bis 2030 wird sie voraussichtlich auf 82 Millionen Tonnen steigen, denn immer schneller gelangen neue Technologien auf den Markt, immer kürzer ist die Lebensdauer von Geräten und immer größer wird die Zahl der Nutzer. In Deutschland fallen laut statistischem Bundesamt jährlich elf Kilogramm pro Kopf an, etwas weniger als im EU-Durchschnitt. 

Die Deponie ist auch eine riesige Recyclingstätte. Arbeiter zerlegen den abgeladenen Schrott in kleinste Teile.

In einer idealen Welt würde der Schrott in den Ländern, in denen er entsteht, ordnungsgemäß gesammelt und großenteils wiederverwertet. Die Realität ist eine andere. Von den 62 Millionen Tonnen wurden 2022 nur 13,8 Millionen Tonnen recycelt. Der Rest landet teils im Ausland, vor allem in Westafrika. Deutschland und andere europäische Staaten haben zwar die Basler Konvention unterzeichnet, die besagt, dass sie keine giftigen Abfälle wie Elektroschrott in arme Länder schaffen dürfen. Der Export von gebrauchten Geräten, die noch genutzt werden können, ist jedoch erlaubt. Das öffnet Schlupflöcher für Schmuggler-Syndikate, denen laxe Kontrollen an den Häfen zugutekommen. Oft wird der Schrott als Gebrauchtware gekennzeichnet und in Containern mit gebrauchten Elektrogeräten oder anderen Waren versteckt. 

Der Weg zu den „Burner Boys“ führt über einen Trampelpfad auf federndem Grund. Es ist eine immer wieder durchweichte und festgetretene Masse aus Kleidungsstücken, Schuhen, Plastik und Gummi. Linker Hand ist der Fluss, rechter Hand suchen Kühe nach etwas Essbarem, vorne, auf einer Anhöhe, weht eine kleine ghanaische Fahne. Stolz, Ironie oder eine bizarre Verbundenheit mit diesem völlig verschmutzten Ort?  

Weideland aus Müll.

Salasi weiß nicht, wer auf die Idee kam, ausgerechnet hier die Nationalflagge zu hissen, noch dazu falsch herum. Er erzählt jetzt, wie er sich sein Geld verdient.   Nach wenigen Minuten im Feuer sind von den Kabeln nur noch kleine Haufen dürrer glühender Drähte übrig. Nach dem Abkühlen müssen sie gewogen und an Zwischenhändler verkauft werden. Salasi und sein Kumpel Abdulai-Yakubu sagen, sie könnten an einigen Tagen um die hundert Cedi verdienen, etwa acht Euro.

5000 Kilometer südlich, in Ghana, haben die wenigsten von der Basler Konvention, Recycling-Quoten und dem Besuch beim Papst gehört. Junge Männer wie Salasi und Abdulai-Yakubu stammen aus dem verarmten, wenig entwickelten Norden des Landes. In der Hauptstadt hoffen sie auf Jobs und ein besseres Leben. Viele landen schließlich in Old Fadama, dem verwinkelten quirligen Armenviertel von Agbogbloshie. 

Die Gegend ist immer schon ein Anziehungspunkt für Ghanaer aus ärmeren Landesteilen und für Migranten aus anderen westafrikanischen Staaten gewesen. Ein großer Gemüsemarkt befand sich dort, bevor Elektroschrott zu einem globalen Problem wurde. Irgendwann verkauften Händler nicht nur Zwiebeln und Yamswurzeln, sondern auch Autoteile und gebrauchte Geräte. 

Auf der einen Seite von Old Fadama säumen unzählige Marktstände die Hansen Road, die große Durchgangsstraße. Morgens um neun Uhr ist so viel los, dass sich Pick-ups, Lastwagen und Motorräder  verkeilen und im Stau erst einmal gar nichts vorangeht. Straßenhändler, Passanten und Kleintransporteure auf Fahrrädern schwärmen zwischen den Fahrzeugen herum, Frauen balancieren große Körbe auf den Köpfen. Weißlich-glänzende Töpfe und Schüsseln aus Aluminium scheinen ein Verkaufsschlager zu sein. „Made in Ghana“ steht auf den Aufklebern.

Nationalstolz oder Ironie? Auf der Halde hat jemand die Ghana-Flagge falsch herum gehisst.

Ein Kleinlaster auf dem Weg zur nächsten Stufe in der Wiederverwertungskette.

In Old Fadama, dem Armenviertel von Agblogboshie, hängt die Existenz vieler Familien von der Halde ab.

Das Aluminium stammt von der Halde auf der anderen Seite von Old Fadama. Einigen Schätzungen zufolge misst sie etwa dreißig Hektar. Es ist nicht sofort ersichtlich, aber seit ihrer Entstehung in den neunziger Jahren hat sich auf der Deponie eine bestens organisierte Recycling-Wirtschaft entwickelt: Neben den „Burner Boys“ arbeiten die „Scrap-Picker“, also die Schrottsammler, angrenzend die Demolierer und Zerhacker von Elektrogeräten, die Sortierer, Händler, Transporteure und Geldverleiher. Tausende Familien hängen in irgendeiner Form von der Elektroschrotthalde ab. Selbst an der unwirtlichen Arbeitsstätte der „Burner Boys“ verkauft eine Frau Wasser und Kekse für „small money“, also für ein paar Cedi. Ihr kleiner Sohn spielt neben ihr im Sand. 

Jeder Trend in der Elektronikbranche kommt auch nach Agbogbloshie – oft nur mit kurzer Verspätung. Wer sich für Smartphones oder Einzelteile von Handys interessiert, wird unweit der Werbeplakate für teuren Whiskey an der Hansen Road in einer sandigen Seitenstraße fündig. An der ersten Bude in einer längeren Reihe liegen auf dem Tresen ordentlich aufgestapelte Smartphones. Sie stammten teils aus dem Ausland, teils aus Ghana, sagt der Verkäufer Christopher Chinedu, ein Nigerianer. Viele Telefone könnten repariert und weiterverkauft werden. Die Nachfrage sei hoch, denn die meisten Ghanaer können sich keine neuen Geräte leisten. 

Klare Hierarchien: dieser Handy-Recycler arbeitet tatsächlich unter seinem Chef auf dem Boden.

Die Handys werden geknackt wie Früchte.

In den Platinen stecken wertvolle Metalle.

Handys, die irreparabel sind, landen eine Bude weiter bei Anthony Sunday, ebenfalls einem Nigerianer. Der löst gerade in Windeseile Kameras aus Telefonen. Unter ihm, auf dem mit Handyteilen und Splittern übersäten Boden, hockt sein Helfer und knackt mit einem Schraubenzieher die Gehäuse, um an die metallhaltigen Platinen zu gelangen. Es sei kein schlechtes Geschäft, aber reich werde man auch nicht, sagt Sunday, während die nächste Kamera in einen Behälter rollt. Vom Erlös muss er seinen Helfer und die Standmiete bezahlen, sein „Boss“ fordere auch einen Anteil.

Man muss sich nicht lange in Agbogbloshie aufhalten, um zu merken, dass dort nicht nur strikte Arbeitsteilung herrscht, sondern auch eine klare Hierarchie. Nach einem groben Schema befinden sich die Schrottsammler und Kabelverbrenner auf der untersten Stufe, es folgen die Arbeiter, die Elektrogeräte zerhacken oder Metalle einschmelzen, und schließlich Spezialisten wie die Handy-Recycler. 

Abdulai-Yakubu fehlt das Geld für den Aufstieg vom „Burner Boy“.

Sich weiterzuentwickeln ist schwierig, wie  Salasi und Abdulai-Yakubu berichten. Beide versuchen, von ihrem mageren Tagesverdienst etwas zu sparen, um eine Arbeitsstätte ohne den giftigen Rauch zu ergattern. Für einen Job wird eine Bezahlung an den neuen Arbeitgeber und oft eine Ablöse an den aktuellen fällig. Werkzeuge wie Hammer oder Meißel muss man selbst anschaffen. Die Fäden in dieser informellen Wirtschaft ziehen im Hintergrund die „Bosse“ oder „Big Men“, wie sie genannt werden. Sie vergeben Jobs und Standplätze, gewähren Kredite und haben die Kontakte zu lokalen und internationalen Großabnehmern. 

Sister Mercy, die Ordensschwester, die nach Brüssel reiste, kennt diesen Alltag mit all seinen Härten. Schnellen Schrittes bahnt sie sich ihren Weg durch das Gassengewirr von Old Fadama. Alle paar Meter spricht jemand die Nonne in der leuchtend blauen Schwesterntracht an. Sie wolle nicht nur erreichen, dass die Industrieländer aufhören, ihren Schrott in Afrika abzuladen, sagt sie. Sie wolle auch, dass diese die Lebens- und Arbeitsbedingungen hier verbessern. Die Lebenserwartung in Agbogbloshie ist deutlich niedriger als im ghanaischen  Durchschnitt. „Jeder versucht hier mangels Alternativen, mit dem Schrott Geld zu verdienen“, sagt Sister Mercy. „Das bedeutet aber nicht, dass es gut ist. Diese Halde am Rande einer Millionenmetropole verschmutzt unsere Umwelt, das Verbrennen der Kabel ist schlecht für die Gesundheit, es ist wirklich eine Schande.“

Die Ordensschwester Mercy Benson will Kindern in Agblogboshie eine bessere Zukunft ermöglichen.

Besonders sorgt sich die Nonne um die Kinder. Auf jedem Rundgang durch Old Fadama versucht sie Überzeugungsarbeit zu leisten, dass Jugendliche zur Schule gehen. Einige „Burner Boys“ kennt sie schon von klein auf, teils fingen sie mit fünf oder sechs Jahren auf der Halde an. „Die Jugendlichen und ihre Familien müssen erkennen, dass sie größere Chancen im Leben haben, wenn sie in die Schule gehen anstatt Müll zu sammeln.“ Bei einigen zeigten die Appelle Wirkung, andere treffe sie irgendwann wieder auf der Halde an. Ihr Orden hat kürzlich mit dem Missio-Hilfswerk eine Tagesstätte für mehr als hundert Kinder aufgebaut, damit Frauen wie die Keksverkäuferin nicht mehr ihre Kinder zur Arbeit mitnehmen müssen. Direkt nebenan ist eine Schule. „Mein Traum ist, dass hier eine Generation heranwächst, die sich nicht auf einer Schrotthalde verdingen muss, sondern einen besseren Weg im Leben einschlagen kann“, sagt die Ordensschwester. 

Die von ihrem Orden betriebene Kita „Guardian Angel Day Care Center“ nimmt Kinder von Arbeitern auf der Schrotthalde auf.

Von der Regierung in Ghana kommt für solche Initiativen wenig Unterstützung. 2021 machte die Stadtverwaltung von Accra stattdessen kurzen Prozess. Nahezu über Nacht ließ sie alle Buden und Arbeitsstellen auf der Deponie niederwalzen. Die Aktion war Teil einer Modernisierungsinitiative mit dem Titel „Let’s Make Accra Work“. Die Elektroschrotthalde sei offiziell geschlossen, hieß es damals. Zuvor hatte es Berichte über massive Umweltschäden gegeben. Boden und Gewässer waren demnach mit Blei, Quecksilber und anderen krebserregenden Schwermetallen verseucht. In Eiern und Muttermilch fanden Wissenschaftler Schadstoffe, die in der EU geltende Obergrenzen um ein Vielfaches überstiegen.

Die Aktion sei schlecht vorbereitet gewesen, sagt Sister Mercy. Die Regierung habe den vertriebenen Menschen damals keine Alternativen geboten, deswegen seien sie nach kurzer Zeit zurückgekehrt. Vier Jahre später erinnert kaum noch etwas an die Schließung der Halde, nur eine hastig errichtete Mauer ist übrig geblieben. Sie versperrt den „Burner Boys“ jetzt den direkten Weg zu der Stelle, wo die Metalle gewogen werden.

Der Künstler Iddris Salifu fertigt Schmuck und Weihnachtssterne aus recyceltem Messing. Schmelzer leisten die Vorarbeit.

In Old Fadama, in einer überdachten engen Einkaufszeile, hat Iddris Salifu in den Wochen vor Weihnachten viel zu tun. Der Ghanaer, der das Kreuz für den Papst fertigte, schuftete in jungen Jahren selbst auf der Halde. Dann schaffte er den Absprung. Ein kreativer Mensch brachte ihm bei, wie man aus Messing, das in alten Klimaanlagen steckt, Schmuck herstellt. Eineinhalb Jahre lang dauerte die Lehre, das Geld dafür stotterte Salifu später ab. Jetzt entstehen in seiner schmalen Werkstatt Ketten im Rapper-Stil und – dank des Kontakts mit der deutschen Hilfsorganisation – Schmuckanhänger und Weihnachtssterne, die in „Eine-Welt-Läden“ in Deutschland verkauft werden. Auch ein Unternehmen in Dubai hat er schon mit Messingschmuck beliefert. 

Mit dem Wasserbeutel zwischen den Zähnen sind die „Burner Boys“ den Flammen ganz nah.

Elektroschrott gelangt aus Europa nach Ghana, im Gegenzug liefert Ghana verarbeitete Produkte aus dem Schrott nach Europa. Die Vorstellung eines solchen Kreislaufs gefällt Salifu grundsätzlich – wenn man von illegalen Machenschaften und Umweltschäden absieht. „Wie sollen die Leute hier sonst an Aluminium, Messing oder Kupfer gelangen?“, fragt er. „Wir können die Elektrogeräte, die andere wegwerfen, auseinandernehmen und etwas Neues und Schönes daraus produzieren. Man muss es nur richtig angehen.“