Helmut Lang: Retrospektive im MAK Wien – Stil

Wer sich erst jetzt wieder an den Namen erinnert, weil gerade überall von ihm die Rede ist, und deshalb spaßeshalber im Internet nach alten Teilen guckt, weil man heute ja lieber Vintage trägt, dem kann man angelehnt an die Worte dieses anderen großen Österreichers Falco aus seinem Song „Jeanny“ gleich mal zurufen: „Ihr werdet sie nicht finden! Niemand wird sie finden!“

Es gibt nämlich kaum „old Helmut Lang“ da draußen. Das liegt nicht nur daran, dass mittlerweile zwanzig Jahre seit seiner letzten Kollektion vergangen sind. Die meisten Leute, wenn sie noch Sachen von ihm besitzen oder irgendwo ergattert haben, geben sie schlicht nicht her. Sie tragen sie, bis sie auseinanderfallen. Oder horten sie wie Trophäen in ihren Schränken. Die Jacketts mit integrierten Schultergurten inspiriert von Fallschirmen, mit denen man sie lässig über die Schultern nach hinten gleiten lassen kann. Die scheinbar so schlichten Tops mit Cut-outs. Schwarzes festes Denim, das an Ärmeln mit Seidensatin kombiniert wird. Kostbare Artefakte einer unwiederbringlich vergangenen Zeit.

Testprint einer Plakatkampagne in New York
Testprint einer Plakatkampagne in New York (Foto: MAK Helmut Lang Archiv. Courtesy of hl-art.; MAK Helmut Lang Archiv, LNI 563-5. Courtesy of hl-art./VG-Bildkunst, Bonn, 2025)

1999 hatte Helmut Lang 51 Prozent seiner Firmenanteile an Prada verkauft. 2004 gab er auch die restlichen 49 an die Italiener ab und verließ im Jahr darauf die Marke. Danach tat er etwas noch Ungeheuerlicheres: Er kehrte der Mode mit Ende 40 den Rücken und kam nie wieder zurück. Keine „Collab“, keine Re-Edition irgendwelcher ikonischen Entwürfe, kein Coffeetable-Buch, kein Mini-Rücktritt vom Rücktritt. Nichts.

Das hat die Sehnsucht nach ihm und seinen Sachen nur noch größer gemacht, weil es das heute im Longevity- und Festklammer-Zeitalter ja gar nicht mehr gibt, dass jemand einfach so geht, dann wirklich wegbleibt und sich nicht mal mit gelegentlichen Interviews zu Wort meldet, um seinen weise gewordenen Senf zum aktuellen Geschehen dazuzugeben. Auch in dieser Hinsicht ist Lang eine Ausnahmeerscheinung. Seitdem lebt und arbeitet der 69-Jährige als Künstler auf Long Island. Ziemlich erfolgreich übrigens.

Ein kompletter Neuanfang dürfte das für ihn selbst gar nicht gewesen sein. Denn rückblickend war Helmut Lang nie nur Designer, sondern ein multidisziplinär denkender Künstler, dessen offensichtlichste Ausdrucksform eine Zeit lang eben Kleidung war. Aber selbst seine Kleider waren in Wahrheit Teil eines Gesamtkunstwerks, das weit darüber hinausgeht. Wie sehr bei ihm alles mit allem zusammenhing – Typografie, Fotografie, Werbung, Ladendesign, Präsentation – oder „alles gleich schwer“ war, wie er es nannte, also gleich bedeutungs- und gehaltvoll, war einem damals nur noch nicht bewusst. Man steckte im wahrsten Sinne des Wortes zu sehr drin. In den Neunzigern wollten alle einfach nur diese coolen Sachen tragen.

Helmut Lang im Jahr 1994.
Helmut Lang im Jahr 1994. (Foto: MAK Helmut Lang Archiv. Courtesy of hl-art.; MAK Helmut Lang Archiv,LNI 563-5. Courtesy of hl-art./VG-Bildkunst, Bonn, 2025)

Dafür wird das Gesamtkunstwerkhafte nun in der ersten Retrospektive über den Österreicher im Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien überdeutlich. Die Ausstellung ist eine kleine Sensation und schon wenige Tage nach der Eröffnung eine der erfolgreichsten der letzten Jahre. Nicht, weil Helmut Lang persönlich erschienen wäre. Angeblich hat er Flugangst. Mit ziemlicher Sicherheit hat er obendrein nicht das geringste Bedürfnis, sich feiern zu lassen. Als die Museumschefin Lilli Hollein ihn im Herbst 2021 in seinem Haus auf Long Island aufsuchte, sagte er als Erstes: „Könnt ihr das bitte machen, wenn ich tot bin?“ Um so erstaunlicher, dass er sich letztlich doch überreden ließ. Trotz der räumlichen Distanz sei er dann in die Umsetzung voll involviert gewesen, heißt es.

Material zumindest ist mehr als genug vorhanden. Lang selbst hatte das, was nach einem Feuer in seinem New Yorker Studio 2010 noch übrig war, dem MAK geschenkt, seinem Lieblingsmuseum in der alten Heimat. Dieses Archiv umfasst mehr als 10 000 Stücke. Von Kontaktbögen über Visitenkarten, Kollektionstexten, Sitzplänen, Notizen zu Entwürfen mit Post-its. Einerseits unglaublich, was der Mann alles aufgehoben hat. Andererseits logisch, wenn man alles als „gleich schwer“ begreift.

Eine Bedingung sei gewesen, dass der zuständige Kurator nicht aus der Mode komme, damit es keine dieser typischen „Kleider auf Puppen“-Nummern würde. Die Kuratorin Marlies Wirth, im Haus zuständig für Digitale Kultur, lässt die Ausstellung nun mit einem Video des Nachrichtensenders CNN von 2005 beginnen, dessen Newsticker „Helmut Lang exits brand“ verkündet. Das markiert gleich mal die Fallhöhe. Seitdem hat es wahrscheinlich nur John Gallianos antisemitischer Ausfall von 2011 als Modemeldung in die Hauptnachrichten geschafft.

Hinter riesig aufgeblasenen Negativstreifen betritt der Besucher dann den Nachbau der Ladenarchitektur von Richard Gluckman für den Flagshipstore auf der New Yorker Greene Street. Nur dass in den monolithischen schwarzen Boxen jetzt keine Kleider auf der Rückseite hängen. Sie sind zu Ausstellungskästen umfunktioniert, die einen Einblick in Langs Arbeitsprozess geben. Er ist dort auch mal selbst zu sehen, auf der Baustelle neben Louise Bourgeois, mit der er immer wieder zusammenarbeitete und deren Kunst er statt Mode ins Schaufenster stellte. Man sieht die Entwürfe für die Anzeigenmotive nach seinem Umzug von Wien nach New York, etwa das mit einer halb zerfransten amerikanischen Flagge. Beides radikal zu seiner Zeit, beides undenkbar heute. Natürlich sind auch zwei der legendären Taxi-Leuchtschilder sehen. Als erster Designer buchte Lang die Werbeflächen der New Yorker Yellow Cabs und erweiterte damit ganz selbstverständlich den Radius der Mode. Dass hier kein Bild eines Models, sondern ein bis dahin kaum bekannter Name spazieren fuhr, war ebenfalls ein Statement.

Simulation einer der letzten Helmut-Lang-Shows im Jahr 2004 im MAK.
Simulation einer der letzten Helmut-Lang-Shows im Jahr 2004 im MAK. (Foto: kunst-dokumentation.com / Manuel; HELMUT LANG. SÉANCE DE TRAVAIL 1986–2005 / Excerpts from the MAK Helmut Lang Archive MAK Ausstellungshalle © kunst-dokumentation.com/MAK; MAK Helmut Lang Archiv, LNI 563-5. Courtesy of hl-art./VG-Bildkunst, Bonn, 2025/kunst-dokumentation.com / Manuel)

Die größte Fläche nimmt der auf den Boden der Ausstellung übertragene Sitzplan der vorletzten Show von Februar 2004 ein. Man taucht gewissermaßen in dieses Tableau mit Namen wie Roman Polanski, Anna Wintour, Thaddaeus Ropac ein, während auf einer riesigen Leinwand Videos von verschiedenen Laufstegshows laufen. Erst danach sind tatsächlich mal Kleidungsstücke zu sehen. Wobei diese „Accessoires Vêtements“, die da an der Wand hängen, eher reduzierte Gerippe eines Hemds oder eines Tops darstellen, die – wie Accessoires eben – über andere Kleidungsstücke gezogen wurden und einen Entwurf dann auf so simple wie erstaunliche Art veränderten.

An diesem Beispiel versteht man wahrscheinlich am besten, warum die Kuratorin Marlies Wirth bei Lang lieber von „Essentialismus“ denn von Minimalismus spricht. Mal abgesehen davon, dass das M-Wort seit den Neunzigern maximal durchgenudelt wurde, wird es dem Österreicher schlicht nicht gerecht. Es ging ihm eben nie nur ums Weglassen und möglichst wenig Dekor oder sachliche Nüchternheit, sondern um die Essenz der Dinge, die dann aber durch Materialtransformation oder einen veränderten Kontext neu aufgeladen wurden. Diese silbernen Miniröcke, die in ihrer seltsamen Form einem Pulli nachempfunden sind, der schnell um die Hüften geknotet wurde, oder die Pumps mit einem Schweif aus Rosshaar an der Ferse – das ist große Konzeptkunst und gleichzeitig absolut tragbare Mode.

Man könnte jetzt noch zig weitere Beispiele nennen, wo Lang überall der Erste war. Backstagefotografie mit Juergen Teller, die erste live im Internet präsentierte Fashion Show 1998. Oder aufzählen, an wie vielen Stellen man die Entwürfe und Ideen anderer Designer wiedererkennt, die natürlich alle viel später kamen. Vor allem dämmert einem aber irgendwann, warum dem Label seit 2005 unter verschiedenen, teils sogar talentierten Designern nie wieder ein echtes Comeback gelang. Weil es ihnen (und den aktuellen Besitzern, der japanischen Fast Retailing Group, zu der auch Uniqlo gehört) eben primär um Mode geht, während es Helmut Lang intuitiv immer auch um neue Arten der Kommunikation, Präsentation und Zugänge ging. Alles gleich schwer, alles gleich toll.

Jacke mit integriertem Schultergurt.
Jacke mit integriertem Schultergurt. (Foto: kunst-dokumentation.com / Manuel; © kunst-dokumentation.com/MAK; MAK Helmut Lang Archiv, LNI 563-5. Courtesy of hl-art./VG-Bildkunst, Bonn, 2025/kunst-dokumentation.com / Manuel)

Helmut Lang als Person spielt in der ganzen Ausstellung so gut wie keine Rolle. Der Titel „Séance de Travail 1986–2005“ macht bereits deutlich, dass es hier um seine fortlaufenden „Arbeitssitzungen“ geht, wie er seine Modeschauen nannte. Nicht um den Österreicher, der in der Steiermark bei seinen Großeltern aufwuchs, früh seine Mutter verlor und sich mit dem Vater überwarf. Der als Autodidakt von Wien aus zunächst Paris und dann die ganze Welt eroberte. Aber natürlich scheint an vielen Stellen seine Persönlichkeit durch, seine Verbundenheit mit Weggefährten wie der Fotografin Elfie Semotan oder der Künstlerin Jenny Holzer und nicht zuletzt sein schräger Humor. Kollektionen tragen Untertitel wie „Henny Penny Loosey Goosy Turkey Lurkey Meet Fox Loxy“. Von den „Recent Celebrity Activities“, ausgewählten Notizen der Boutiquenverkäufer, welche Stars an einem Tag im Laden vorbeischauten und was sie dort kauften, würde man am liebsten sofort ein ganzes Buch lesen wollen. Demnach passte Bill Murray am 13. Dezember 2004 nicht mehr in seine Größe 54, weil er nach eigenen Angaben etwas Winterspeck angesetzt hatte. Er versicherte aber, durch lange Spaziergänge und Sit-ups bald wieder „in shape“ zu sein. Er trug halt am liebsten Langs perfekt geschnittene, schmale Anzüge.

Wie zeitgemäß Helmut Langs Mode und seine Bildsprache immer noch erscheinen, ist letztlich wenig überraschend. Auch deshalb ist die Sehnsucht nach ihm ja so gewaltig. Schmerzlich bewusst wird einem am Ende der Ausstellung vielmehr, dass eine Karriere wie die seine heute wahrscheinlich unmöglich wäre. Nicht nur, weil sie in Wien, ohne Geld und Kontakte begann. Sondern weil Designer heute immer weniger intuitiv arbeiten können. Alles gleich corporate. Alles gleich kommerziell. Das meiste eher beliebig.

„Helmut Lang: Séance de Travail 1986–2005“ noch bis 3.5.2026 im MAK Wien