René Adler: „Schade, dass ein Spieler mit über 500 Spielen derart aufpassen muss, was er sagt“

Dem erfolgreichen Torhüter René Adler blieb ein großes Turnier verwehrt. Das lag an seinen Rivalen, aber auch an ihm selbst. Heute hält er Vorträge über die Bedeutung mentaler Gesundheit. Ein Gespräch über Signale des Körpers – und die aktuellen Torhüter.

Einen Termin mit ihm zu finden, ist gar nicht so einfach. Denn seine Tage sind vollgepackt. Und dennoch achtet der frühere Nationaltorhüter René Adler, der 2019 nach 269 Bundesligaspielen seine Karriere beendete, sehr genau darauf, sich auch Zeit für sich zu nehmen. Das ist ihm so wichtig wie das Thema mentale Gesundheit, über das er regelmäßig in seinem Podcust „OpenUp“ referiert. Der 40-Jahre alte Unternehmer, der unter anderem als Experte beim ZDF tätig und mit der Schauspielerin Lilli Hollunder verheiratet ist, spricht aus eigener Erfahrung – und mit Gästen aus dem Sport, der Wirtschaft und auch der Kultur.

WELT: Herr Adler, mal angenommen, in wenigen Tagen müsste das WM-Aufgebot benannt werden. Welche drei Torhüter würden Sie berufen?

Rene Adler: Aktuell würde ich Oliver Baumann berufen, Alexander Nübel und Finn Dahmen. Auch wenn ich mir wünschen würde, dass Marc-Andre einen neuen Verein finden und zu seiner alten Stärke wird, habe ich meine Zweifel, dass er es noch zur WM schafft.

WELT: Sie meinen Marc-Andre ter Stegen?

Adler: Ja. Da gibt es noch zu viele Eventualitäten. Das heißt, er muss nach seiner Verletzung erst einmal körperlich stabil bleiben – und dann muss er ja einen neuen Klub finden und dort wieder performen. Das Thema Manuel Neuer sehe ich in diesem Zusammenhang übrigens nicht, denn unsere aktuelle Nummer eins, also Oliver Baumann, spielt konstant gut. Manuel ist von sich aus zurückgetreten, deshalb stellt sich für mich die Frage nach einer Rückkehr aktuell auch nicht.

WELT: Dennoch, wie ein Damoklesschwert schwebt seit Monaten über den aktuellen Keepern die Debatte um eine mögliche Rückkehr von Manuel Neuer. Er selbst betonte jüngst zwar, dass er bei seiner Entscheidung bleibe, nicht mehr für die Nationalelf zu spielen. Viele Experten fordern ihn mit Blick auf die WM aber. Wie bewerten Sie das rein sportlich, aber vor allem aus menschlicher Sicht in Bezug auf die Torhüter, die von so einer Diskussion nicht unberührt bleiben?

Adler: Für mich gibt es zwei Gewinner der WM-Qualifikation. Der eine ist Nick Woltemade, der andere Oliver Baumann. Oliver hat durch die höhere Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wird, und durch ein gesundes Selbstbewusstsein noch einmal einen großen Schritt nach vorn gemacht. In wichtigen Situationen ist er auf Top-Niveau da. Ich weiß nicht, wie Manuel und sein Team um ihn herum wirklich planen und denken, aber in Bezug auf eine gewollte mögliche Rückkehr, ist es strategisch natürlich immer besser, wenn du gerufen wirst – und nicht selbst rufst. Aber Teil der Wahrheit in diesem Zusammenhang ist eben auch, dass die, die vor wenigen Wochen noch nach Manuel gerufen haben, ihn dann nach zwei, drei Gegentoren hinterfragen, an denen er eine Aktie hatte, was völlig normal ist. Das Torwartthema ist in Deutschland irgendwie immer ein Thema. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, was das mit den anderen Torhütern macht, in diesem Fall Oliver als Nummer eins.

WELT: Ja, bitte.

Adler: Oliver ist ein total loyaler Spieler, der seine Arbeit mit viel Demut verrichtet. Er bringt regelmäßig seine Leistung, wird aber dennoch infrage gestellt – nichts anderes ist es, was da passiert. Wenn immer nach etwas Besserem gesucht wird, ist man mit dem Aktuellen meist nicht zufrieden. Vielleicht sollten wir endlich mal damit anfangen, die Leistung von Oliver anzuerkennen. Schauen wir doch mal nach Spanien. Spanien hat hinten im Tor mit Unai Simon keine über alles strahlende Persönlichkeit, die wir in Deutschland über Jahrzehnte auf der Position hatten. Doch Unai Simon ist ein sehr guter Torhüter und Teil einer Mannschaft, die mit ihm äußerst erfolgreich ist. Oliver Baumann war kürzlich im „Sportstudio“ des ZDF zu Gast. Gerade am Anfang des Gesprächs hatte ich teilweise den Eindruck, dass er genau aufpasst, bloß nichts Falsches zu sagen. Da hat man gemerkt, dass das ganze Torwartthema etwas mit ihm macht. Ich finde es schade, dass ein Spieler, der über 500 Bundesligaspiele gemacht und eine überragende Qualifikation gespielt hat, derart aufpassen muss, was er sagt, weil ihm möglicherweise etwas davon um die Ohren fliegt.

WELT: Herr Adler, Sie sind seit geraumer Zeit Host von einem Podcast, in dem Sie, die menschliche Seite des Leistungssports und der Geschäftswelt aufzeigen wollen. Haben Sie – mal ganz trivial gefragt – in Ihrer 16 Jahre währenden Karriere Unmenschliches erlebt?

Adler: Das ist immer eine Frage der Interpretation. Ich denke, in Branchen, in denen es viel Aufmerksamkeit gibt, die eine große Anziehungskraft haben und in denen viel Geld im Spiel und Konkurrenzkampf vorhanden ist, ist es völlig normal, dass es viel Druck von außen gibt. Den Druck, den man sich selber macht, muss man individuell betrachten. Wenn du den externen Druck nicht regeln kannst, was im Leistungssport, der das Interesse auf sich zieht, nun mal schwer ist, dann musst du den Hebel intern ansetzen – also bei dem Druck, den du dir selbst machst. Ich persönlich habe den Ansatz, den externen Druck zu akzeptieren und zu schauen, was ich selbst beeinflussen kann. Diesbezüglich kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass ich das gerade zu Beginn meiner Karriere oft nicht geschafft habe. Da gehe ich offen mit um, weil es oftmals der Grund dafür war, warum ich so viele Verletzungen hatte. Es hat gedauert, bis ich verstanden habe, dass es in erster Linie darum geht, mich als Mensch besser zu verstehen und zu überlegen, was ich dafür tun kann, um glücklicher zu sein. Ob nun mit einem Coaching, einer Therapie oder einem speziellen Training. Wenn du glücklich bist, performst du auch besser – egal, in welchem Bereich. Wenn ich zurückblicke, dann sage ich, dass ich auch eine Weltklasse-Karriere hätte haben können. Das Talent dazu hatte ich durchaus, so selbstbewusst bin ich. Nur das Talent allein reicht eben nicht, denn es geht eben auch um diese permanente innere Druckregulierung, diesen Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung. Das zu können, ist elementar – und unterscheidet Weltklasse-Athleten wie Manuel Neuer oder Cristiano Ronaldo von guten Athleten. Sie wissen sich immer wieder neu zu erfinden, nach Verletzungen, Formschwächen oder medialen Schelten. Das kann man nicht hoch genug einschätzen.

WELT: Dann haben Sie sich 2010 wohl auch zu viel Druck gemacht. Wenige Monate vor der WM in Südafrika wurden Sie damals im Duell mit Manuel Neuer von Bundestrainer Joachim Löw zur Nummer eins gekürt, verletzten sich dann aber, so dass Ihr Rivale durchstarten konnte.

Adler: Nach der Entscheidung von Jogi im März habe ich bei mir einen Schalter umgelegt und mir gesagt: Okay, das wird jetzt mein Start, jetzt zeige ich der Welt, dass ich nach ganz oben gehöre. Das sollte mein Turnier werden. Auf jeden Abwurf sind wir überprüft worden. Ich denke, dass ich darüber verkrampft bin. Ich dachte, je größer der Input, also der Fleiß, Trainingsumfang und Fokus, desto besser spiele ich. Ich habe alles um mich herum ausgeblendet, noch mehr trainiert und alles der WM untergeordnet. Das war rückblickend für mich falsch. Ich hätte mich besser nebenbei noch breiter aufstellen sollen, um insgesamt breiter aufgestellt zu sein. Mit dem Wissen von heute habe ich einige Dinge nicht optimal gehändelt. Ich habe Signale meines Körpers ignoriert, der sich dann aber irgendwann gemeldet hat – mit einem Rippenbruch. Eine ähnliche Verletzung wie vor meinem Bundesligadebüt, das ich erzwingen wollte. Also ein wiederkehrendes Muster, wenn ich versuchte, Ziele krampfhaft zu erzwingen. Heute halte ich Vorträge und spreche in der Retrospektive darüber, wie wichtig es ist, sich zu fragen, was du selbst für dich brauchst, um bestmöglich zu funktionieren – auch bei einem Fußballklub, der in der langfristigen Betrachtung nur ein temporärer Arbeitgeber ist und weder die Zeit noch die Kapazität hat.

WELT: Sich selbst kümmern, sich selbst hinterfragen – das klingt wie eine Botschaft.

Adler: Ja. Es kann sein, dass einige das vielleicht anders sehen. Aber der Anspruch eines Fußballprofis sollte schon der sein, nicht nur zu schauen, was der Verein vielleicht für mich tun kann, sondern auch darauf zu achten, autark zu sein. Denn wer weiß, ob man nächstes Jahr noch bei dem Verein ist. Die Leute, die da arbeiten, kann man ja nicht einfach zu seinem neuen Verein mitnehmen. Mein Ansatz wäre heute, sich ein Team um sich herum aufzubauen – mit Menschen, die einem mit Blick auf eine langfristige Karriere helfen können.

WELT: Da wären dann aber auch die Spielerberater gefragt.

Adler: Natürlich ist der Spielerberater ein elementarer Teil hinsichtlich der Gestaltung und der Planung der Karriere. Es wäre wünschenswert, wenn sich jeder Spielerberater als Teil eines Teams um seinen Klienten herum begreift – und nicht nur als den Part, der danach schaut, wie man Profit erzielt.

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WELT: Würden Sie sich manchmal mehr Transparenz in der Öffentlichkeit bezüglich des Themas mentale Gesundheit wünschen?

Adler: Ich finde, dass sich diesbezüglich in den vergangenen Jahren schon einiges verändert hat. Ich bin im Kuratorium der Robert-Enke-Stiftung und dadurch auch im engen Austausch mit Teresa Enke (ihr Ehemann und Nationaltorwart Robert Enke, der an Depressionen litt, nahm sich 2009 das Leben – d.R.) und der Stiftung. Nicht nur durch die fantastische Arbeit der Stiftung haben die Themen viel mehr Sichtbarkeit bekommen. Der Umgang damit hat sich verändert. Aber natürlich könnte es immer noch besser laufen. Es fällt allerdings auf, dass Athleten, die ihre Karriere beendet haben, offener über die Themen reden. Aber auch aktive Sportler tun das zunehmend.

WELT: In einem Interview mit WELT hat Mentaltrainer und Sportwissenschaftler Michael Draksal vor wenigen Monaten gesagt, dass Mentalhygiene genauso wichtig wie Zahnhygiene sei. Was tun Sie eigentlich in Bezug auf Ihre mentale Gesundheit?

Adler: Regelmäßiger Sport ist für mich nach wie vor sehr wichtig, das sorgt für eine Menge Ausgleich und ein gutes Körpergefühl. Ich habe zudem das Thema Meditation und Atmung für mich entdeckt. Überdies schaffe ich mir kleine Inseln für eine Auszeit. Ich habe etwa eine Akkupressurmatte, auf die mich für eine halbe Stunde lege, wenn ich nach einem langen und intensiven Tag nach Hause komme. Den Raum und Zeit dafür nehme ich mir, weil ich merke, wie gut es mir danach geht. Die Matte stimuliert das Nervensystem. Ich fühle mich entspannter danach. Mir ist wichtig, den verschiedenen Rollen gerecht zu werden – so bin ich unter anderem Familienvater.

WELT: Sind Sie eigentlich froh, dass Sie die sich immer weiter verändernde Branche heute von außen als Experte betrachten können oder wünschen Sie sich manchmal noch aktiv zu sein?

Adler: Wenn ich mit dem Wissen, das ich jetzt habe, noch einmal 22 Jahre alt wäre, würde ich sofort einchecken und noch mal spielen wollen, klar. Ich würde versuchen in bestimmten Situationen nicht mehr in alte Muster zu verfallen und viel mehr Vertrauen in mich haben. Ich denke, dann wäre noch einiges mehr in meiner Karriere drin gewesen.

WELT: Was zum Beispiel?

Adler: Wenn es etwas gibt, das ich bedauere, dass es mit einem Auslandswechsel final nicht geklappt hat. Aufgrund meines Sicherheitsdenkens bin ich sehr lange in meiner Komfortzone in Leverkusen geblieben. Da wusste ich, was ich hatte, da kannte ich jeden, da wusste ich, dass ich funktioniere. Ich war nicht bereit, mir die Challenge im Ausland zu suchen. Deshalb bewundere ich einen Spieler wie Florian Wirtz, der diesen Schritt nach Liverpool ganz bewusst gemacht hat. Ich kann mir vorstellen, was er gerade durchlebt – und fühle mit ihm. Das Schlimmste, was passieren könnte, ist, dass er irgendwann anfängt, an seinen großartigen Fähigkeiten zu zweifeln. Aber ich denke, dass er ein starkes Umfeld hat, mit seinen Eltern, seiner Familie, seinen Freunden – und da auf einem guten Weg ist. Ich glaube, Entwicklung funktioniert immer über Widerstände. Wenn er diese Phase überwindet, wird er wieder einen Schritt nach vorn machen. Wenn er bei sich bleibt, wird er auf kurz oder lang denselben Input in Liverpool haben, wie er ihn in Leverkusen hatte.

WELT: Beeindruckt hat in den vergangenen Wochen in der Bundesliga der erst 17 Jahre alte Lennart Karl vom FC Bayern.

Adler: Es gefällt mir sehr, wie er spielt. Wir rufen in Deutschland immer mal wieder nach Straßenkickern – mit ihm haben wir wieder einen. Ich hoffe, er behält diese Unbekümmertheit noch lange. Vor allem im nächsten Sommer. (lacht)