
Pokrowsk war bis vor Kurzem nur ein Eisenbahnknoten in der Steppe, den Kenner höchstens als Heimat jenes schönen ukrainischen Weihnachtsliedes kannten, das in Amerika als „Carol of the Bells“ berühmt ist. Heute hat es einen so schrecklichen Ruhm wie Verdun vor hundert Jahren. Hier kämpft Russlands Armee so brutal wie nirgendwo sonst, und seit dem Juli 2024, als der Angriff begann, hat sie nach britischen Zahlen insgesamt eine halbe Million Soldaten verloren. Seit Beginn der Invasion im Februar 2022 sind es sogar 1,2 Millionen Tote und Verletzte. Russland hat damit schon höhere Verluste als Amerika im Zweiten Weltkrieg. Die ukrainischen Zahlen sind geheim, aber weil auch in diesem hochmodernen Drohnenkampf die alte Regel gilt, dass den höchsten Zoll der Angreifer zahlt, dürften sie viel niedriger sein.
Obwohl vor Pokrowsk jeder Quadratmeter mit Blut getränkt ist, hat Russland seit dem Juli 2024 nur 28 Kilometer gewonnen. Das ist die Distanz zwischen dem Dorf Prohres, wo der Angriff damals begann, und dem heutigen Frontgebiet. Dieser Krieg verharrt in einem mörderischen Stillstand, in dem unter den Augen der Killerdrohnenschwärme jeder verloren ist, der sich bewegt. Zuletzt traf es allein auf russischer Seite durchschnittlich 1033 Soldaten pro Tag.
Und weil es nicht vorwärts geht und nicht zurück, kann man heute schon ahnen, wer gewinnen wird: derjenige, der seine Verluste an Menschen, Geld und Material länger verkraftet. Wahrscheinlich wird nicht ein großer Durchbruch diesen Krieg entscheiden, sondern die Tiefe der Reserven. Wer zuerst keine mehr hat, verliert.
Putin lässt Söldner aus den Randgebieten Russlands sterben
Auf den ersten Blick könnte daraus folgen: Russland wird gewinnen. Seine Bevölkerung ist dreieinhalbmal so groß wie die der Ukraine vor dem Krieg, sein Gebiet sogar achtundzwanzigmal größer. Auf den zweiten Blick aber ist klar: Für Putin hat die Überzahl seiner Untertanen bis heute keinen Sieg gebracht. Er will Ruhe im Land und lässt deshalb fast nur gedungene Söldner aus Russlands Randgebieten in der Ukraine sterben. Man sieht das an der Zahl der Toten: In der Teilrepublik Baschkortostan ist sie sechsmal so hoch wie im Umfeld von Sankt Petersburg.

In der Ukraine dagegen herrscht Wehrpflicht, wenn auch mit Ausnahmen. Das ganze Land kämpft, die Front hält. Es geht ums Leben, und der Wille der Verzweiflung behauptet sich gegen die Überzahl.
Dadurch sind die Armeen sich im Augenblick ebenbürtig, und es kommt auf die wirtschaftliche Ausdauer an. Auch hier sieht es für Russland nur auf den ersten Blick gut aus. Die Drohnenproduktion ist gestiegen, und das Land exportiert weiter Öl und Gas. Aber vieles läuft schlecht. Wegen der Sanktionen sinken die Gewinne, die Steuern steigen, das Wachstum taumelt, und die Panzer, die noch an die Front gehen, stammen aus Altbeständen. Wenn Putin die Produktion weiter steigern will, muss er so radikal umstellen wie Stalin im Zweiten Weltkrieg: Kalaschnikows statt Konsum, Kasernen statt Krankenhäuser. Das Konzept „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner merkt etwas“ hat sich erschöpft. Wenn Putin weitermachen will, riskiert er, die Leute von Sankt Petersburg und Moskau gegen sich aufzubringen.
Die Ukraine hat die innovativste Wehrtechnik der Welt
Aber die Ukraine war an diesem Punkt bisher noch schwächer. Das Land hat zwar erfahrene Soldaten. Es hat eine entschlossene Bevölkerung und die innovativste Wehrtechnik der Welt. Seine Luft- und Seedrohnen, seine Kampfroboter suchen ihresgleichen. Aber im Kampf mit dem russischen Koloss fehlen ihm Größe und industrielle Tiefe. Die genialsten Prototypen helfen wenig, wenn für die millionenfache Serienproduktion das Geld und die Werkhallen fehlen.
Und hier haben sich jetzt die Europäer ins Spiel gebracht. Seit Amerika wackelt, dämmert es Merz und seinen Kollegen, dass die Union, die ihren Völkern seit einem Menschenleben den Frieden sichert, zum „Spielball von Großmächten“ werden kann, wenn Putin in der Ukraine freie Bahn nach Westen bekommt. Deshalb bringt die EU jetzt ihre stärkste Waffe ins Spiel: ihr Geld und als Sicherheit im Hintergrund das blockierte Vermögen des Aggressors.
Europa zeigt, dass es helfen wird. Es kann damit zu dem Hinterland werden, das die Ukraine braucht, um Russlands Vernichtungswillen im Abnutzungskrieg zu brechen. Das kann gelingen. Russland hat eine Wirtschaftskraft von 2,5 Billionen Euro. Die Länder der EU sind mit 21 Billionen achtmal stärker. Sie müssten dieses Gewicht nur öfter geschlossen und entschlossen in die Waagschale werfen.
