
Der CDU-Politiker Jens Spahn ist nicht unbedingt dafür bekannt, dass er immerzu die Auseinandersetzung mit der AfD suchen würde. Am vergangenen Mittwoch aber, bei der Plenardebatte im Bundestag, machte er seinem Ärger über die Partei und deren Dauerlamento über die angeblich eingeschränkte Meinungsfreiheit in Deutschland Luft. „Wie die Kleinkinder“ hätten sich die AfD-Politiker auf ihrem Ausflug in den USA darüber beklagt, dass sie in Deutschland nicht mehr alles sagen dürften, rief der Fraktionschef der Union. Nun aber erwägen sie, einem ihrer eigenen Abgeordneten Redeverbot zu erteilen, weil er etwas gesagt habe, was zwar im Parteiprogramm der AfD stehe, „aber scheinbar Höcke
nicht gefällt“, sagte er. „Skurriler geht’s doch kaum.“
Worauf Spahn anspielte, ist ein Gefecht innerhalb der AfD zu einem Thema, bei dem die Partei seit Monaten keine geschlossene Position mehr finden kann: die Wehrpflicht. Hauptakteure des Streits sind der thüringische AfD-Landeschef Björn Höcke, der kürzlich in einer Rede im Erfurter Landtag sagte: „Bevor auch nur ein einziger junger Mensch in diesem Land zwangsweise
wieder in Uniform antreten soll, muss dieser Staat endlich wieder ein
Staat für die Deutschen werden.“ Mit anderen Worten: In diesem Zustand gibt es für Soldaten keinen Grund, Deutschland zu verteidigen. Auf der anderen Seite steht Rüdiger Lucassen, verteidigungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion und ehemaliger Bundeswehroffizier. Er griff Höcke bei einer Rede im Bundestag frontal an. Dieser habe suggeriert, dass es sich nicht
lohne, für das gegenwärtige Deutschland zu kämpfen. „Was hätten wohl die
Männer und Frauen der Befreiungskriege dazu gesagt? Sie wären diesem
Befund niemals gefolgt“, konstatierte Lucassen.
Weil Lucassen damit „erhebliche negative Presse“ verursacht haben soll, verlangte die AfD-Fraktionsführung von ihm, sich bis zum heutigen Freitag dem Vorstand gegenüber zu erklären. In einer der ZEIT vorliegenden E-Mail des Justiziariats an den Fraktionsvorstand und die Fraktionsgeschäftsführung wird Lucassen mitgeteilt, dass gegen ihn ein „ein Ordnungsverfahren“ eingeleitet sei und er „Gelegenheit zur Stellungnahme“ habe. Lucassen, so ist aus der Partei zu hören, könnte sogar mit einem mehrmonatigen Redeverbot belegt werden. Damit zeigt sich: In der Partei, die ihren politischen Gegner und dem Staat bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorwirft, die Meinungsfreiheit zu schreddern, rangiert ebendiese Meinungsfreiheit hinter dem Schutz von Funktionären vor parteiinterner öffentlicher Kritik. Manche sagen: Die Fraktionsspitze sei vor Höcke, dem „Kurfürst aus Thüringen“, wie ihn manche nennen, eingeknickt.
Meinungspluralismus Ja, Abkehr vom Staat Nein
Die Stellungnahme hat Lucassen nach Informationen der ZEIT inzwischen abgegeben. Demnach sei es ihm einzig darum gegangen, davor zu warnen, dass eine Verunglimpfung von Staat, Bundeswehr und Institutionen das Vertrauen von Soldaten und ihren Familien zerstöre, Wähler abschrecke und langfristig die Regierungsfähigkeit der AfD gefährde. Meinungspluralismus innerhalb der Partei sei zwar legitim, dürfe aber nicht in eine Abkehr vom Staat münden. Sollte es weitere Fragen in der Sache geben, stünde er für mündliche Erläuterungen zur Verfügung.
Ob das die Fraktionsspitze milde stimmen wird, ist unklar. Denn mit seiner Attacke gegen Höcke hat Lucassen nicht nur auf die offene Flanke beim AfD-Schmerzensthema Wehrpflicht hingewiesen. Er stellte – bislang nahezu unbeachtet – eine viel größere und grundsätzlichere Frage: Wie gesund ist es für die Partei, wenn sie in einer Tour den Staat zu delegitimieren versucht? Wird sich das nicht eines Tages sogar gegen sie wenden? Wird sie so ihre Anschlussfähigkeit an die Union verspielen, die sie anstrebt, um sich ihren Traum von der Regierungsbeteiligung zu erfüllen?
Schon in der zweiten Runde des Streits mit Höcke ließ Lucassen bemerkenswerte Töne anklingen. Nach seiner Rede im Bundestag hatten die beiden ihre Auseinandersetzung auf die Plattform X verlegt. Er habe sich ja schon „viele Anwürfe gefallen lassen müssen“, der
Vorwurf „mangelnder Vaterlandsliebe“ sei bislang nicht darunter gewesen,
postete Höcke. Jederzeit würde er für die Existenz Deutschlands
„kämpfen
und sterben“. Aber dafür gibt es laut Höcke gar keinen Anlass, da dieses
Land nicht von außen, sondern von innen bedroht werde. Lucassen konterte, immer häufiger lese er aus Höckes
Umfeld, dass „dieser ‚Staat‘ es nicht wert sei, alles verrottet sei, woke und links“. In dieser „Absolutheit“ könne er diese Sicht nicht teilen. Wie man denn überhaupt Politik machen wolle, wenn „wir außerhalb des ‚Systems‘ denken“, fragt er in Richtung Höcke. Eine Antwort blieb aus.
Für die AfD ist das eine ziemlich missliche Debatte. Denn den Staat und seine Institutionen zu attackieren, zu delegitimieren, verächtlich zu machen, Verschwörungen anzudeuten, mal mehr, mal weniger schrill, gehört schließlich längst zur DNA der Partei und ihrem politischen Vorfeld. Die Social-Media-Kanäle werden damit gefüllt, Wahlkämpfe damit bestritten, Reden darauf zugespitzt. Dass die Wehrpflicht hinterfragt wird, sogar von Parteichef Tino Chrupalla persönlich, obwohl sie von Beginn an im AfD-Programm steht, ist, wie sich jetzt in der Causa Höcke-Lucassen zeigt, nur Teilaspekt einer größeren Strategieproblematik.
Lucassen sei „zu weit gegangen“
Dann aber ist da auch noch die persönliche Ebene. Als ehemaliger Bundeswehr-Angehöriger fühle er sich von Höckes Wehrpflicht-Kritik gekränkt, ist aus Lucassens Umfeld zu hören. Dem erfahrenen Militär-Fachmann und Nato-Befürworter fiel es schon immer schwer, sich zu zügeln, wenn jemand wie Höcke provokant
fragt: Was sollten junge Männer „in einer Bundeswehr verteidigen, die
keinen Patriotismus und keine Tradition mehr kennt“. Auch schon früher war der als Transatlantiker bekannte Oberst deutlich geworden. So widersprach er, als Chrupalla 2024 laut über einen Nato-Austritt Deutschlands sinnierte.
2023 hatte Lucassen seine Fraktionskollegen Steffen Kotré und Eugen
Schmidt wegen deren Auftritte im russischen Propaganda-Fernsehen „so
etwas wie Volksverrat“ vorgeworfen. Auf Facebook nahm er das später zwar
teilweise zurück, trotzdem beriet der Parteivorstand über
Konsequenzen.
Spannend wird nun sein, wie der Fraktionsvorstand mit Lucassen umgeht. Dessen Einlassung am Freitag habe man nicht gerade als einsichtig wahrgenommen, ist aus Führungskreisen zu hören. Um aber dem Vorwurf der Suppression kritischer
Meinungsäußerungen zu entgehen, könnte die Fraktionsspitze versuchen,
den Konflikt im Einzelgespräch mit Lucassen zu lösen, und es bei einer informellen Ermahnung belassen. Doch die Stimmung
scheint aufgeheizt in dem 13 Mitglieder zählenden Gremium. Indem Lucassen auf X noch einmal gegen Höcke nachlegte, sei er
„zu weit gegangen“. Es sei daher wahrscheinlicher, dass man ihn für
mehrere Monate für Reden im Plenarsaal sperrt. Es wäre ein kleiner Sieg für Höcke.
Ob es wirklich so weit kommt, ist ungewiss. Bei der Sitzung der Bundestagsfraktion am Dienstag jedenfalls zeigte sich, dass auch Höckes Einfluss begrenzt ist. Gerne hätten die Thüringer Abgeordneten über Lucassen geredet, doch auf Antrag der Fraktionsführung wurde der Punkt von der Tagesordnung gekegelt. Nun will die AfD die Weihnachtszeit nutzen, um die Gemüter zu beruhigen. Vielleicht wachse dann ja auch Gras über die Sache, heißt es. Lucassen dagegen würde sich der Auseinandersetzung offenbar gerne stellen. Der ZEIT sagte er: „Ich bin jederzeit bereit, mit Höcke ein Streitgespräch zu führen.“
