Der Cyborg und die Liebe
Lange hatte man nichts mehr von Jonas Lüscher gelesen. Nun meldet er sich mit einem Donnerschlag zurück: Sein Roman „Verzauberte Vorbestimmung“ ist ein erzählerischer Triumph.

„Lüschers Buch ist selbst ein Donnerschlag“, schreibt unser Rezensent Andreas Platthaus: „Ein Lebenszeichen nicht nur des lange vermissten Schriftstellers, sondern auch eines Erzählens generell, das politische und philosophische Ansprüche an die Literatur gleichermaßen erfüllt wie das Verlangen nach Form- und Sprachbewusstsein. Und Letzteres ist es, dem Lüscher mehr vertraut als dem schieren Intellekt – weil es menschlich sui generis ist. Wie die Liebe, die Kate erst zum Umdenken vom Mechanischen ins Menschliche gebracht hat. Aber das ist eine andere Geschichte, die in dieser Rezension unerzählt geblieben ist. ‚Verzauberte Vorbestimmung‘ steckt überhaupt voller Geschichten. ‚Du stellst schon wieder die falsche Frage‘, musste sich der Ich-Erzähler als letzten Satz in ‚Frühling der Barbaren‘ anhören. Mittlerweile gibt der Autor Jonas Lüscher einfach alle richtigen Antworten.“

Und wo ist jetzt die Seele?
Ihr Geburtstagswunsch ist eine Leiche zum Sezieren: Christine Wunnickes Roman „Wachs“ erzählt funkelnd klug vom Leben der Anatomin Marie Biheron und stellt die immer gültige Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine.
„Wunnickes Verzicht auf alle ausgestellte oder mühsam verhüllte Gelehrsamkeit“, schreibt unser Rezensent Tilman Spreckelsen, sei „schon aus ihren früheren historisch grundierten Romanen wie ‚Die Kunst der Bestimmung‘, ‚Katie‘, ‚Nagasaki, ca. 1642‘ und zuletzt ‚Die Dame mit der bemalten Hand‘ vertraut, die Entscheidung bewährt sich auch in ‚Wachs‘ aufs Schönste. Das bedeutet zugleich, dass der Roman einen sehr viel größeren Hallraum besitzt als denjenigen, den seine eigentliche Handlung einnimmt – die großen Diskussionen jener Zeit, allen voran die um den Platz des Menschen in der physischen und metaphysischen Welt, werden berührt, aber nicht ausbuchstabiert. Dass sie dem Roman eingeschrieben sind, teilt sich trotzdem mit.
Christine Wunnicke: „Wachs“. Roman. Berenberg Verlag, Berlin 2025. 192 S., geb., 24,– €.

Konjunktiv III dringend gesucht
Gewinner des Deutschen Buchpreises, aber viel mehr als das: Dorothee Elmigers Roman „Die Holländerinnen“ zeigt, wie man aus großer alter Literatur große neue Literatur macht.
„Man braucht nicht zu wissen, dass Dorothee Elmiger nach eigener Auskunft Jahre mit dem Buch gerungen hat“, schreibt unser Rezensent Andreas Platthaus, „denn nun ist es wie aus einem Guss. Gerade in der Montage all der einzelnen Erzählungen, die in der einen großen Erzählung der Poetikvorlesung zusammenlaufen – als entspräche das Konstruktionsprinzip dem sich immer wieder verzweigenden Fußmarsch in den Dschungel, dem die Truppe dann dadurch entkommt, dass sie den Rückweg auf dem Wasser antritt. Alles fließt und zerfließt in diesem Buch, bis es am Ende doch auf eine einzige Richtung zusteuert: die Erfahrung einer – im Wortsinn – unbeschreiblichen Unheimlichkeit, die von der Schriftstellerin in ihrer Vorlesung damit umschrieben wird, dass ‚sie selbst es in den Wochen und Monaten, den Jahren danach unzureichend und unbeholfen als das ‚erratische, grundlose Wesen der Welt‘, als ‚großen, leeren Gott‘, das ‚klaftertiefe, abyssische Nichts‘ zu beschreiben versucht habe, aber der Horror, der Horror liege naturgemäß außerhalb der Sprache‘“.

Und das ist der ganze Film?
Katerina Poladjans Roman „Goldstrand“ kreist um einen Sprung ins Wasser und eine verzweifelte Suche am Schwarzen Meer, die weit zurück ins 20. Jahrhundert führt. Das Kunststück dabei: Er ist ganz leichthändig erzählt.
„So leichthändig von existenzieller Verzweiflung zu erzählen, das muss man Katerina Poladjan erst einmal nachmachen. Sie schickt einen sechzigjährigen Filmregisseur in Rom auf die Couch von Dottoressa Malatesta und lässt ihn seinen letzten Film erzählen“, schreibt unser Rezensent Jörg Plath. „Am Schluss dieses vernichtenden Künstlerporträts kommt es allerdings dicke.“
Katerina Poladjan: „Goldstrand“. Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 160 S., geb., 22,– €.

Das sind nicht mehr seine Vereinigten Staaten
Nach elf Jahren ist endlich wieder ein neuer Roman von Thomas Pynchon erschienen: „Die Schattennummer“. Niemand hat unser Leselebensgefühl so geprägt wie er – und er schafft es auch diesmal wieder.
„Pynchons Literatur fordert vor allem heraus, weil sie unter der Maske von meist in der Vergangenheit angesiedelten Grotesken dezidierte Gesellschaftskritik betreibt“, schreibt unser Rezensent Andreas Platthaus: „Diese Farcen forcieren unsere Aufmerksamkeit für die Gegenwart.“ In „Schattennummer“ führe Pynchon uns ins Jahr 1932, „mitten in die Weltwirtschaftskrise und ins letzte Jahr der Prohibition in den Vereinigten Staaten. Handlungsort der ersten Hälfte des Romans ist Milwaukee, Wisconsin, die amerikanische Bier-Hauptstadt, der das Alkoholverbot schon Jahre vor dem Schwarzen Freitag ein ökonomisches Desaster beschert hat. Dafür blüht der Schwarzhandel.“
Thomas Pynchon: „Schattennummer“. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 398 S., geb., 26,– €.

Beten, dass das Fiktion ist
Immer wenn man denkt, Thomas Melles Sterbewunsch-Roman „Haus zur Sonne“ sei nicht mehr auszuhalten, kippt er ins phantastisch Lustige: ein vertracktes Meisterwerk.
Immer stärker scheine der Roman „zu schwanken zwischen der aufscheinenden Möglichkeit einer Heilung mittels Fiktionen und völliger Hoffnungslosigkeit“, schreibt unser Rezensent Jan Wiele, „weil selbst die wildesten davon schon abgenutzt scheinen. Die dramatische Zuspitzung zum Ende hin aber könnte, indem sie die Leser doch noch fiebernd auf eine Rettung hoffen lässt, den schönsten denkbaren performativen Widerspruch erzeugen: ein an ‚Tausendundeine Nacht‘ erinnerndes Erzählen zum Überleben, mitten in einem Todesbuch.“
Thomas Melle: „Haus zur Sonne“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 316 S., geb., 24,– €.

Anatomie der Traurigkeit
Georgi Gospodinov gehört zu den interessantesten Schriftstellern Europas. Sein neues Buch „Der Gärtner und der Tod“ ist Memoir, Bekenntnis und Momentaufnahme in einem – und sein bisher persönlichster Roman.
„‚Der Gärtner und der Tod‘ erzählt mit großer Zartheit und Demut von Krankheit und Tod des Vaters“, schreibt unsere Rezensentin Sandra Kegel: „Zwar rettet sich der Autor immer dann, wenn es zu schwer wird, mit den lustigen Geschichten seines Vaters ‚für alle Fälle‘ ins Lachen. Etwa wenn er von dessen gescheiterten Versuchen als Unternehmer nach dem Fall der Mauer erzählt. Der Humor wird ihm zum Mittel gegen die Traurigkeit. Nie zuvor jedoch hat Gospodinov uns so intime und wehmütige Einsichten in sein Innerstes gestattet.“
Georgi Gospodinov: „Der Gärtner und der Tod“. Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Aufbau Verlag, Berlin 2025. 240 S., geb., 24,– €.

Dies Nichts ist mehr als etwas
James Bond lässt schön grüßen: Der neue Roman des Amerikaners Percival Everett, „Dr. No“, ist eine herrlich alberne Spionage-Satire.
„‚Dr. No‘ ist, wie schon der Titel verrät, eine schwindelerregende Persiflage auf die frühen Bond-Filme und das Spionage-Genre überhaupt“, schreibt unsere Rezensentin Sandra Kegel: „Zugleich versammelt Everett hier all die Themen, die den Schriftsteller seit jeher umtreiben: die Academia, Blackness, Identität, Rassismus, Amerika. ‚Dr. No‘ treibt diese ernsten Sujets in unnachahmlich alberne, schwindelerregende Höhen. Der Roman wechselt pausenlos zwischen der hohen Mathematik und den Niederungen der Genreliteratur hin und her. Das bereitet großes Vergnügen, und bald ist man versucht, das vergilbte Mathebuch herauszukramen und alte Bond-Filme zu streamen.“
Percival Everett: „Dr. No“. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2025. 320 S., geb., 26,– €.

Gott hatte sich das ganz anders vorgestellt
Vom Menschen zum Fuchs: András Visky erzählt in seinem großen Roman „Die Aussiedlung“ von seiner rumänischen Familie und ihrer langen Lagerhaft. Und findet dafür einen faszinierend fragmentarischen Stil.
Unser Rezensent Tilman Spreckelsen schreibt: „Der rumänische Schriftsteller und Dramaturg András Visky beschreibt in seinem Roman ‚Die Aussiedlung‘ (…), wie nach der Verhaftung seines Vaters, dessen Kirche von der rumänischen Geheimpolizei offenbar als Widerstandsnest identifiziert worden war, auch die zurückgelassene Familie deportiert wird. Wo der Vater inhaftiert ist, weiß die Familie nicht, und es fehlt nicht an Stimmen, die dazu raten, nicht mehr mit seiner Wiederkehr zu rechnen. Sie erreichen das Gegenteil.“ Visky habe für seinen Roman eine Form gewählt, „die sofort überzeugt, weil sie tatsächlich abbildet, was der Autor unternimmt: die hartnäckige Suche nach Erinnerungen, nach Bildern aus der Lagerzeit, die sich vor allem als Fragmente zeigen, als einzelne Schnappschüsse mit vergilbenden Rändern“.
András Visky: „Die Aussiedlung“. Roman. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 456 S., geb., 30,– €.

Ein Leben im Zweifel
Der Pulitzerpreisträger Hisham Matar folgt in seinem neuen Roman „Meine Freunde“ drei Libyern nach London und fragt, wie und ob aus Exil eine Heimat werden kann.
„Wer dieser Tage im Netz nach Informationen über die Schüsse sucht, die am 17. April 1984 vor der libyschen Botschaft in London fielen, wo ein Mitarbeiter mit einem Maschinengewehr das Feuer auf etwa zweihundert Demonstranten eröffnet hatte, die gegen Gaddafis Regime protestierten, der stößt vor allem auf den Namen von Yvonne Fletcher“, schreibt unsere Rezensentin Lena Bopp: „Die junge Polizistin wurde damals erschossen. Etwa elf weitere Menschen wurden verletzt. Wie schwer oder leicht sie verwundet wurden und wer sie waren, ist allerdings kaum zu erfahren. Nun, gut vierzig Jahre nach diesen Ereignissen, die zu einem Bruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Libyen und Großbritannien führten, tauchen zwei der damals Verwundeten indes wieder auf – als fiktionale Charaktere in dem neuen Roman des Pulitzerpreisträgers Hisham Matar, der einen von ihnen, den am schwersten verletzten, zu seinem Erzähler macht.“
Hisham Matar: „Meine Freunde“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Verlag, München 2025. 538 S., geb., 26,– €.
