Großmeister in der Disziplin des Toreschießens waren einst in Bremen am Werk, jeder von ihnen nutzte fruchtbare Methoden, um den Ball am gewünschten Ort unterzubringen. Ailton sauste am liebsten Steilpässen hinterher, die Köpfe von Klaus Allofs und Kalle Riedle erfreuten sich an Flanken in den Strafraum, Miroslav Klose und Rudi Völler kannten sich gar in allen erdenklichen Stilformen aus. In nicht mehr ganz so glorreichen Zeiten waren es die selbst ernannten „hässlichen Vögel“, Niclas Füllkrug und Marvin Ducksch, die Werders Sturmbetrieb am Laufen hielten. Da ließ sich schon mal drüber hinwegsehen, wenn sich die beiden in der Kabine hinterher an die Gurgel gingen.
Hach, Werder Bremen und seine Stürmer! Die Liste ließe sich fortsetzen und belegt: Wenn Werders Stürmer glücklich sind, geht es dem Verein gut, jedenfalls ist die 126-jährige Klubgeschichte nahezu frei von Gegenbeweisen. So eine unumstößliche Wahrheit birgt allerdings auch Probleme. Stürmerkrisen wachsen sich in Bremen schnell mal zu Sinnkrisen aus. Wer sind wir – und wenn ja, wie viele?

:Der Poet mit knurrendem Magen
Was will uns der Bremer Stürmer Victor Boniface mit seinen schrägen Mehrzeilern sagen? Nun, er wird nicht ohne Grund Big Vic genannt.
Und damit zur Gegenwart. Victor Boniface, vor der Saison mit großem Tamtam aus Leverkusen ausgeliehen: null Saisontreffer. Keke Topp, vor zwei Jahren als Riesenhoffnung von Schalke geholt: null Saisontreffer. Ergibt eine Gesamtzahl an Stürmertoren, Moment, mal nachzählen … genau, zu wenig, um jene Träume auf baldige Europapokalnächte zu entfachen, gegen die sie sich am Weserufer noch nie gewehrt haben.
An diesem Samstag treten die Bremer in Augsburg an, und wenn sie so spielen wie zuletzt, könnte das die längst laufenden Debatten verschärfen. Und sie alle haben auf die eine oder andere Weise mit Werders Sturmtief zu tun. Nach schwachem Saisonstart hatten sich die Bremer in Rufweite zu den Europapokalplätzen gearbeitet, daraufhin folgten: ein in letzter Sekunde verzockter Heimsieg gegen Köln (1:1), eine leidenschaftsarme Derbyniederlage beim Hamburger SV (2:3), eine Art Selbstaufgabe beim jüngsten 0:4 gegen Stuttgart. Nicht nur der Kicker fragt deshalb, ob Coach Horst Steffen, vor der Saison mit großen Erwartungen aus Elversberg gekommen, „auch Krise“ könne.
Steffen wiederum offenbarte zuletzt, dass er die „Kritik“ annehme und mit „Etiketten“ ohnehin nichts anfangen könne. „Als wir fünf Spiele nicht verloren haben, haben Sie von mir auch nicht gehört, dass es nach Europa geht.“ Fakt ist: Bei den jüngsten Auftritten wiesen die Bremer jeweils hasenfüßige Zweikampfquoten auf. Mit dem Folgeeffekt, dass sich die Atmosphäre im Bremer Weserstadion so bleiern anfühlte wie lange nicht.
Bei Boniface schwang die Hoffnung mit, dass Werder-Coach Steffen den Sturmhünen schon in Schuss kriegen würde
Fakt ist auch: Als Horst Steffen vor der aktuellen Saison am Osterdeich auftauchte, galt er vielen als genau der richtige Trainer. Als idealer Nachfolger für Ole Werner, der nach einer ausgeschlagenen Vertragsverlängerung zu RB Leipzig übergelaufen war. Bei Werner wusste jeder, was man bekommt: Klare Prinzipien und Hierarchien, Leistungsmaximierung in der Gegenwart, dafür eher keine geschliffenen Talentförderprogramme. Letzteres wurde jedoch vom Bremer Sportchef Clemens Fritz für nötig erklärt, um Transfererlöse zu erzielen und als Klub die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen.
Steffen dagegen hatte sich in Elversberg als Jugendförderer und onkeliger Kümmerer profiliert. Und an dieser Stelle gewinnt Werders Nulltoresturm nun noch mehr Bedeutung: Beim 24-jährigen Boniface schwang die – offenbar naive – Hoffnung mit, dass Steffen diesen hochbegabten, jedoch sichtlich unfitten Hünen schon in Schuss bekommen würde. Beim 21-jährigen Topp war es der Glaube, dass Steffen ihm mit Pflege und Zugewandtheit zum Durchbruch verhelfen könnte. So weit zur Theorie.
In der Praxis haben die Bremer hoch gepokert und ihrem Trainer einen doch arg lückenhaften Kader zur Verfügung gestellt. Boniface und Topp treffen nicht nur nicht, sie tapsen mitunter derart schwerfällig über den Rasen, dass man sich jeden Gedanken an intensives Angriffspressing sparen kann. Kapitän Marco Friedl musste zuletzt auf die Linksverteidigerposition weichen, einerseits, um im Zentrum Platz fürs von Coach Steffen geförderte Abwehrjuwel Karim Coulibaly, 18, zu schaffen. Andererseits gilt für den im Sommer verpflichteten Linksverteidiger Isaac Schmidt, was auf nahezu alle Bremer Zugänge zutrifft: Egal, ob Flügelmann Samuel Mbangula, Spielmacher Cameron Puertas oder Verteidiger Maximilian Wöber – sie alle blieben bislang unter den Erwartungen, weil sie entweder mit Steffens System fremdeln, noch Zeit zur Eingewöhnung brauchen oder verletzungsbedingt ausfallen.
Bremens Sportchef Clemens Fritz versichert, dass in Bremen aktuell keine Trainerdebatte geführt werde
Hat Sportchef Clemens Fritz den Kader also falsch abgemischt und dem Trainer Steffen, vereinfacht gesagt, zu viel Breite und zu wenige Höhen bereitgestellt? Wurde bei Boniface schlicht zu hoch gepokert? Oder fällt dessen eingeschränkter Bewegungsradius automatisch in die Verantwortung des Trainers Steffen, weil es ja schließlich er ist, der seine Stürmer flott kriegen muss? Bremens Sportchef Clemens Fritz jedenfalls versicherte in dieser Woche gebetsmühlenartig, dass eine Trainerdebatte in Bremen nicht geführt werde. Coach Steffen versicherte (mal wieder) gut gelaunt, dass er sich „grobe Fehler“ nicht vorwerfen könne, weil er „immer nach gutem Gewissen“ gehandelt habe. Woraufhin sich selbst militante Horst-Steffen-Befürworter fragten: na hoffentlich, was auch sonst!? Und wäre es nicht mal Zeit für einen verbalen Gegenreiz, wenn die Bremer Spieler aktuell schon nicht als Mentalitätsmonster auffallen?
In Augsburg könnte Werder seinen bedenklichen Trend umkehren oder verschärfen, beides ist möglich. Nicht dabei sein wird: Victor Boniface. Der Nigerianer muss wegen Knieproblemen passen. Bremen, einst einer der stürmischsten Orte der Liga, wird das neue Jahr mit mindestens einem Nulltorestürmer begrüßen.
