

Bilder sind für Politiker so etwas wie für Soldaten Munition. Man nutzt sie ständig, um Diskurse zu prägen, Menschen zu überzeugen und um Entscheidungen herbeizuführen. So wie Friedrich Merz den „Spielball“. Von dem sprach er am Mittwoch, bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag: Ein Gegenstand ohne eigenen Willen, der sich nur bewegt, wenn er geschlagen, getreten oder gedroschen wird. Aua. Als Spielball wollte der Kanzler das „Wir“, von dem er sprach, im Ringen mit den imperial betrunkenen Großmächten nicht sehen – nicht Europa, nicht Deutschland und schon gar nicht sich selbst.
Dass Europa genau dieses Schicksal droht, weiß der Kanzler. An den Regierungssitzen in Washington und Moskau handeln viele bereits entsprechend. Mag Donald Trump an weniger schlechten Tagen europäische Schmeicheleien genießen, das Grundrauschen, verschriftlicht in der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie, setzt ganz offen darauf, Europa zu spalten und herumzuschubsen. Wladimir Putin macht aus seiner Verachtung ohnehin keinen Hehl. Am Donnerstag bezeichnete er die Europäer als Ferkel, während drei russische Grenzschützer offenbar die Grenze nach Estland unerlaubt überschritten.
Die jüngsten Herabsetzungen und Einschüchterungsversuche des Kremlherrschers sind wie immer perfekt getimt. Dieses Mal zur Entscheidung der Europäer, ob sie russische Vermögen dafür einsetzen, die Ukraine zu unterstützen. Von ihr hängt in diesen Tagen viel ab. Dem Land geht das Geld aus. Ohne frische Milliarden aus der EU würde Kiew in wenigen Monaten kaum noch weiterkämpfen können – und der Staatsbankrott drohen. Europas stärkste Armee stünde auf verlorenem Posten. Vor diesem Hintergrund diskutierte Maybrit Illner am Donnerstag, während die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel um eine Lösung rangen, die Frage „Welche Wahl hat die Ukraine noch?“.
Precht: Angriffslust und naiv-pazifistische Thesen
In welcher Weise die Antwort aufs Engste mit Europa verbunden war, darin waren sich die geladenen Gäste weitgehend einig. Abgesehen von Richard David Precht. Die Angriffslust des Philosophen und selbst ernannten Wächters des deutschen Meinungskorridors – mit reichlich Sendezeit – stand in einem bemerkenswerten Widerspruch zu den naiv-pazifistischen Thesen, die er vertrat. Mal stellte er die Entscheidung zwischen der Fortsetzung der ukrainischen Verteidigungsanstrengungen und ihrem Ende als Wahl zwischen Moral und einem Ende des Leids dar. Mal fragte er rhetorisch, warum die Europäer drei Jahre lang „keine einzige diplomatische Großoffensive“ gestartet und noch immer nicht mit Moskau verhandelt hätten. Faktenfehler inklusive.
Doch zurück zum Spielball.
Während Precht schmollte und schimpfte, suchten die übrigen Gäste nach Zeichen dafür, dass sich Europas Haltung in eine Richtung verändert, die der Ukraine in den nächsten beiden Jahren das Überleben sichern kann. Dass die EU in kurzer Zeit selbst zu einem Akteur wird, der sicherheitspolitisch im Konzert der Großmächte auf Augenhöhe den Ton vorgibt, zu dieser Prognose verstieg sich niemand. Aber Ansätze zu mehr Eigenständigkeit sahen die übrigen Diskutanten einige.
Sigmar Gabriel (SPD) und Armin Laschet (CDU) setzten vor allem anderen auf den Kanzler. Gabriel, Vorsitzender der Atlantikbrücke, attestierte Merz, seinem Vorgänger in seiner jetzigen Funktion, bei den Gesprächen mit den USA, der Ukraine und den Europäern über einen gemeinsamen Plan für ein Ende des Krieges Handlungsfähigkeit demonstriert zu haben. Die Verhandlungen hätten gezeigt, dass es nun die eine Nummer in Europa gebe, die der frühere US-Außenminister Henry Kissinger sich immer gewünscht habe. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses stellte Merz ein nicht minder gutes Zeugnis aus. Er beherrsche die „Methode Kohl“, womit Laschet meinte, der Kanzler der zweiten Zeitenwende habe vom Kanzler der Einheit gelernt, die deutsche Führungsrolle in Europa anzunehmen. Zugleich belebe er die deutsch-französische Freundschaft neu und beziehe die kleinen Staaten ein. Ob er erfolgreich damit sein wird, ist freilich noch nicht gesagt. Kohl hatte für Entscheidungen gesorgt – das war im Falle der Freigabe russischer Vermögenswerte für die Ukraine während der Sendung noch offen. Merz selbst hatte die Chance am Mittwoch noch auf „50/50“ beziffert.
Die ukrainische Autorin Kateryna Mischenko wertete die Anstrengungen des Kanzlers als Versuch, „Europa zu einem Subjekt“ zu machen – womit sie ebenfalls implizit einräumte, dass die EU aktuell mehr einem Spielball ähnelt, als selbst im Konzert der Großen mitzumischen. Wie erfolgreiche Diplomatie aussehen könne, müsse noch erprobt werden in einer Konstellation, in der auf russischer Seite nur Vollprofis säßen und auf amerikanischer Seite keine – denen müsse man „viel Glück wünschen“, sagte sie diplomatisch; wissend, dass bei den direkten Unterredungen zwischen den Gesandten der beiden Nuklearmächte in Miami und in Moskau bislang keine Europäer mit am Tisch saßen, und schon gar keine Ukrainer.
Dass der Weg zu eigenständigerem Handeln für die Europäer Risiken birgt, darüber herrschte Einigkeit. „Wir werden bürgen müssen“, sagte Laschet mit Blick auf das Ringen um die Nutzung eingefrorener russischer Guthaben zur Ukraine-Finanzierung. Russland das Geld einfach wegzunehmen sei „zu simpel“. Er glaube, dass der Kanzler zu großen Schritten bereit sei, auch wenn mit russischen Reaktionen gerechnet werden müsse.
Fix: „Putin riecht Schwäche“
Warum es sich lohne, Risiken einzugehen, brachte Liana Fix auf einen einfachen Nenner. Es gehe schlicht um die Sicherheit Europas. „Wladimir Putin riecht Schwäche“, warnte die Osteuropawissenschaftlerin, die aktuell in Washington D.C. arbeitet. Seine imperialen Ziele hätten sich nicht verändert. Ein Kollaps der Ukraine sei die schlechteste Option – und hätte unmittelbare Auswirkungen auf die eigene Sicherheit.
Dass Russland beginne, mit Europa zu reden, glaubt Fix nicht. Aber wenn ein Signal der Entschlossenheit aus Brüssel komme und Putin den 20-Punkte-Plan des Westens ablehne, könne Trump sauer werden und Druck ausüben. Das wäre dann „ein neues Momentum“, so Fix.
In dem Szenario wäre Europa vielleicht immer noch mehr Spielball als Akteur. Aber die Rolle würde weniger einem stumpfen Spielball gleichen. Eher dem goldenen Schnatz, aus dem Quidditch-Spiel bei Harry Potter. Ein Gegenstand mit Eigenleben also, das seine Flugbahn selbst bestimmt, Druck ausweicht, Winkel schlägt. Das wäre eine gute Taktik, um Zeit zu gewinnen. Bis man handlungsfähig genug ist, um auf Augenhöhe zu agieren.
