
Für das stolze Agrarland ein Schock: Frankreich exportiert in diesem Jahr erstmals genauso viele Lebensmittel, wie es selbst importiert. Zum ersten Mal seit 50 Jahren – zuvor gab es immer ein Plus von mehreren Milliarden Euro. Diese Zahl geistert seit Tagen durch die Debatten in Frankreich. Während Deutschland bei Exporten an Autos und Maschinen
denkt, spielen in Frankreich landwirtschaftliche Produkte die Hauptrolle: Es führt vor allem Wein,
Champagner, Käse, Olivenöl, aber auch Rindfleisch aus – es ist das umsatzstärkste Agrarland der EU.
Das Entsetzen über diese neue Schwäche auf
dem Weltmarkt erklärt auch, wieso Frankreich nun mit aller Härte in Brüssel gegen das
Mercosur-Abkommen vorgeht: Es hat Angst, an Bedeutung zu verlieren. Das Abkommen soll den Export von Autos, Maschinen, medizinischen Geräten,
Milchprodukten und Alkohol erleichtern – im Gegenzug sollen Rind- und
Hühnerfleisch, Reis, Soja und Zucker aus Südamerika mit geringeren Zöllen
importiert werden können. Es wäre das größte Freihandelsabkommen der EU, es
geht um geringere Zölle für Waren im Wert von rund 40 Milliarden Euro.
Die französischen Bauern sind schon länger frustriert
Unklar ist, ob EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Samstag nach Brasilien
fliegen kann, um das Abkommen zu unterzeichnen. Beim EU-Gipfel am Donnerstag dürften die Staats- und Regierungschefs erneut über Mercosur streiten. Polen hat sich bereits klar dagegen positioniert. Ungarn könnte das noch tun. Ein Abschluss ginge auch ohne die Zustimmung der Regierungen in Paris, Warschau und Budapest. Es braucht eine qualifizierte Mehrheit, um den bislang bekannten Widerstand zu überstimmen.
Andererseits reicht für eine Blockade ein Nein von vier EU-Staaten aus, die gemeinsam 35 Prozent der Bevölkerung ausmachen – und Italien wackelt wohl. Sollte Ministerpräsidentin Giorgia
Meloni ins Lager der Gegner wechseln, würde sich damit zumindest der Abschluss des Mercosur-Abkommens verzögern. Reuters berichtet, dass sich Macron und Meloni bereits auf eine Verschiebung der Abstimmung geeinigt haben.
Macron könnte indes ein Aufschub helfen. Denn diese Woche könnte für ihn innenpolitisch kaum ungünstiger sein, um Mercosur zu unterstützen. Schließlich blockieren gerade Tausende Landwirte wichtige
Autobahnen im Süden des Landes: Sie protestieren gegen die Regel, alle Rinder
einer Herde zu töten, wenn eines von ihnen von der hoch ansteckenden „Lumpy-Skin-Krankheit“ befallen ist.
Gegen die Trecker-Kolonnen ist die Polizei machtlos – seit
vielen Tagen schon blockieren sie wichtige Verkehrsachsen im Land, etwa die A69
bei Toulouse.
Der aktuelle Protest hat vordergründig
wenig mit dem Abkommen zu tun – aber Mercosur befeuert den Frust der Landwirte zusätzlich.
Viele Demonstranten geben an, insgesamt gegen die Agrarpolitik aufbegehren zu
wollen, sich nicht gehört zu fühlen. Die mächtigen Bauernverbände wollen
ebenfalls das Abkommen verhindern. Sie glauben nicht daran, dass die von Macron
versprochenen sogenannten Spiegelklauseln wirklich gelten: Diese sollen sicherstellen, dass importierte Waren denselben Standards genügen wie
europäische Produkte – etwa bei Pestizid- und Antibiotikaverboten. Radikalere
und stets erfolgreichere Gruppen wie die Coordination Rurale lehnen nicht nur
dieses Abkommen, sondern letztlich insgesamt den Freihandel ab. Sie fordern
nationale Agrarpolitik, eigene Gesetze und Schutzzölle.
Inzwischen stellen sich auch sämtliche Parlamentarier gegen Mercosur: Ende November nahmen sie mit 244 Stimmen eine
Resolution gegen die Zustimmung zum Abkommen an. Nur ein Abgeordneter stimmte
dagegen – nach eigener Aussage habe er „aus
Versehen“ auf den falschen Knopf gedrückt. Die Resolution forderte, „der
Europäische Gerichtshof solle die Vereinbarkeit des EU-Mercosur-Abkommens mit
den Verträgen der Union prüfen“.
Dazu kommt: Präsident Macron veränderte mehrfach seine Position. Im Wahlkampf
2022 versprach er, dem Abkommen nur unter „strengsten Auflagen“ zuzustimmen.
Für ihn persönlich als überzeugter Vertreter eines unbeschränkten Marktes
sicherlich schon ein Zugeständnis an die Macht der Bauern im Land. Es folgten
mehrere Kehrtwenden: Als Bundeskanzler Friedrich Merz Ende Oktober überraschend
verkündete, alle 27 EU-Staaten seien sich einig, widersprach Macron. Auf der
Weltklimakonferenz in Belém äußerte er sich dann positiv zum Abkommen. Jedes
Mal folgten Proteste der Landwirte, die in Nachrichtensendungen ihre „maßlose
Enttäuschung“ kundtaten.
