Roman „Schwindende Welt“: Und Sex zwischen Eheleuten ein Trennungsgrund

Sex ist so ein Thema, über das alle sprechen, aber irgendwie doch nicht. Das gilt für öffentliche Diskurse genauso wie zwischen Freun­d*in­nen und in Partnerschaften – die nicht selten über die mangelnde Kommunikation über die (verlorengegangene) Intimität zerbrechen.

Sayaka Murata spielt in ihrem neu auf deutsch erschienenen Buch „Schwindende Welt“ mit diesem Tabu, spitzt es zu und dreht es um. Die Hauptfigur, Amane, lebt in Japan in einer nicht genau definierten Zukunft ein, zwei Generationen nach uns, Liebe ist ein aussterbendes Modell, Kopulation für die Fortpflanzung obsolet und sexuelle Annäherung zwischen Eheleuten ein Trennungsgrund. Amane steht zwischen den Welten – ihre Eltern haben sie auf traditionelle Weise gezeugt, was sie nur ihren engsten Freun­d*in­nen verrät – und sie selbst will zwar noch ein Kind mit einem Ehemann, aber keinen Sex mit ihm und trägt in ihrem Prada-Täschchen Bilder von 40 Liebhabern mit sich herum, die großenteils zur Mangawelt gehören.

In der Hoffnung auf einen Neuanfang rettet sie sich letztlich nach „Experimenta“, eine Modellstadt à la Brave New World oder Walden Two, in der Kinder kollektiv aufgezogen werden, Erwachsene alleine in Ein-Zimmer-Apartments leben und man zum Masturbieren in sogenannte Clean Rooms geht. Als Amane nicht schwanger wird, zunehmend an der Gleichförmigkeit der Menschen in Experimenta zweifelt, ihr Mann und sie sich auseinanderleben und dann auch noch ihre Mutter zu Besuch kommt, wird aus der vermeintlichen Rettung ein innerlicher Schiffbruch.

„Schwindende Welt“ ist in Japan bereits 2015 erschienen – noch vor Muratas Romanen „Die Ladenhüterin“ und „Das Seidenraupenzimmer“, die sie weltweit bekannt gemacht hatten. In allen drei Romanen setzt sich die 1979 in Japan geborene Schriftstellerin mit gesellschaftlichen Normen auseinander und dem sozialen Druck, eine Ehe einzugehen und Kinder zu bekommen. Und es geht um die Stellung der Frau in der japanischen Gesellschaft sowie um Sexualität.

Der Roman

Sayaka Murata:Schwindende Welt“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag, Berlin 2025. 267 Seiten, 24 Euro

Kalte Welt

Während diese Themen in ihren späteren Werken subtiler behandelt werden, geht es in „Schwindende Welt“ im Grunde um nichts anderes. In der ersten Szene liegt Amane mit ihrem ersten Freund im Bett, später lernt sie auf einem Dating-Event ihren zweiten Ehemann kennen. Über ihren Job erfährt man nur, dass sie in einem Büro arbeitet, in dem es Morgenappelle gibt. Als sie sich dort einmal mit Kolleginnen unterhält, geht es um Schwangerschaft und das (veraltete) Modell der Ehe.

Das angestrebte gesellschaftliche Ideal im Japan der Zukunft, das Murata geschaffen hat, kommt ohne Liebe, Sex und Leidenschaft aus. Es ist eine kalte Welt, und das soll vielleicht auch der Sprachduktus symbolisieren, der im Roman überwiegt: distanziert, nüchtern, lakonisch.

Was hingegen etwas unelegant wirkt, sind mehrere eingewobene Erklär-Parts. Das funktioniert noch, wenn Murata einen Nachrichtensprecher die neuen Entwicklungen in Experimenta vortragen lässt. Aber teils will man der Autorin fett „show, don’t tell“ an den Rand schreiben. Beispielsweise dann, wenn eine Arbeitskollegin zur anderen sagt, was die längst wissen muss: „Kinderkrankentage gibt es bei uns ja nicht“ – was im Grunde nur dazu dient, den Le­se­r*in­nen die Firmenpolitik zu erläutern. Ähnlich ist es, wenn eine Freundin zu Amane über Experimenta sagt: „Unsere Eltern leben nicht mehr dort, und wir können nie mehr zurück.“

Lesenswert ist der Roman dennoch: Murata wirft aktuelle und relevante Fragen über menschliche Verbindungen und Sexualität auf. So diskutieren Freun­d*in­nen im Buch über Co-Elternschaft und den Sinn der Zweierbeziehung genauso wie über die kapitalistische Verwertung von Sexualität. Er stellt gesellschaftliche Normen zur Debatte und zeigt, dass alles auch anders sein kann.

Bei Murata geht die „Schwindende Welt“ nach Amanes Umzug in einer Dystopie auf. In Experimenta wird jeglicher Funken von Individualität aus den Be­woh­ne­r*in­nen der Modellstadt gelöscht. Alle Kinder haben die gleichen Frisuren, Kleider und die gleiche Mimik. Alle Männer und Frauen werden „Mutter“ genannt. Amane passt sich äußerlich vollkommen an, nimmt sich aber dennoch, was sie – körperlich und emotional – braucht. Dazu gehört auch – und so verstört der Roman auf den letzten Seiten doch noch auf die Art, wie es die anderen Romane von Murata tun – sich ihre Art von Familie zu erhalten und sich Sex zu nehmen, wann (und von wem) sie will.