Demonstrationen in Ungarn wegen Kindesmissbrauch: Orbán hat ein Problem

Am Wochenende waren wieder die Massen auf die Straßen geströmt. Rund 50.000 Ungarn folgten am Samstagnachmittag einem Aufruf von Oppositionsführer Petr Magyar, so schätzten es später Agenturen, und schlossen sich einem Demons­trationszug über die berühmte Kettenbrücke und dann durch die Hauptstadt Budapest an. In den Händen hielten sie Ted­dybären und Lichter, die nach Einbruch der Dunkelheit entzündet wurden.

Am Freitag hatte Magyars Tisza-Partei einen bis dahin unter Verschluss gehal­tenen Bericht des Nationalen Kinderschutzzentrums veröffentlicht, der ein detailliertes Bild der Missstände im staat­lichen Fürsorgesystem zeichnet. Nach An­gaben des Innenministeriums, das die Echtheit des Dokuments bestätigte, basieren die Angaben auf einer Befragung von Betreuungspersonen aus dem Jahr 2021, die damals an die zuständigen Behörden weitergeleitet worden sei, um deren Arbeit zu unterstützen.

Ermittlungen rasch eingestellt oder gar nicht erst eingeleitet

Insgesamt ist dort von mehr als 3000 Meldungen von Missbrauchsfällen in staatlichen Einrichtungen die Rede, was rund einem Fünftel der betreuten Kinder entspreche. Dem Bericht zufolge klagte rund ein Viertel der Betreuer darüber, dass in Missbrauchsfällen entweder gar keine Ermittlungen eingeleitet worden oder sie schnell eingestellt worden seien.

Das Thema Kindesmissbrauch ist für den seit 2010 regierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán heikel, schon weil er sich selbst als Bewahrer traditioneller Werte gegen einen vermeintlich „woken“ Zeitgeist inszeniert. Die Bewahrung der Familie spielt hier eine besondere Rolle. Orbán hat den Schutz von Kindern immer wieder als höchste Priorität bezeichnet. Ein Gesetz, mit dem 2021 „homosexuelle Propaganda“ verboten wurde, wurde von der Regierung als „Kinderschutz­gesetz“ bezeichnet.

Doch für Gegner von Orbáns Fidesz-Partei kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Für sie spiegeln die Missbrauchsskandale und Korruption die Grundübel der regierenden Fidesz-Partei, die als abgehobene Herrschaftselite wahr­genommen wird, die sich nur noch um den eigenen Machterhalt drehe, während die öffentliche Infrastruktur im Land verkomme und für Soziales kein Geld mehr da sei. Immer wieder wird in Ungarn beklagt, dass der Fidesz eine Kultur der Straflosigkeit für all jene etabliert habe, die sich loyal zu seiner Herrschaft verhalten.

Orbán liegt in Umfragen zurück

Oppositionsführer Magyar griff diesen Vorwurf auf und beklagte, dass die Un­garn die Schwächsten der Gesellschaft nicht schützten. Vor den Demonstranten rief er in Richtung der Regierung: „Wie können Sie zulassen, dass Kinder an Orten, die für sie sicher sein sollten, geschlagen, gedemütigt und vergewaltigt werden? Und wieso sehen Sie weg?“

Magyar war Anfang 2024 selbst durch die Folgen eines Missbrauchsskandals an die Spitze der Opposition gespült worden. Damals drehte sich der Skandal um die Begnadigung eines Fidesz-nahen stellvertretenden Direktors eines Waisenhauses, der Missbrauchstaten seines Vorgesetzten gedeckt hatte. Die Regierung hatte die Dynamik der Empörung über den Fall anfangs vollkommen unterschätzt und musste schließlich reagieren. Am Ende traten sowohl Präsidentin Katalin Novák als auch Justizministerin Judit Varga zurück.

Magyar wiederum ist Vargas Ex-Mann. Obwohl das Paar damals schon getrennt lebte, gab er ein viel beachtetes Interview, in dem er die beiden Frauen als Bauernopfer bezeichnete und Orbán vorwarf, sich „hinter Frauenröcken“ zu verstecken. Da er bis dahin selbst als Fidesz-Mann Teil des Fidesz-Systems gewesen war, bekamen seien Vorwürfe gegen üble Machenschaften in den Machtzentren besonderes Gewicht, und Magyar selbst erhielt so breite Zustimmung, dass er vor der Europawahl 2024 die bis dahin unbedeutende Tisza-Partei übernehmen konnte und zu Orbáns gefährlichstem Gegner aufstieg.

Seit mehreren Monaten führt Tisza in allen unabhängigen Umfragen für die kommende Parlamentswahl im April, auch wenn Orbáns Fidesz sich in den vergangenen Wochen zu stabilisieren schien. Es wurde die Vermutung laut, Magyar könne das Momentum seines Aufschwungs nicht bis zum Wahltag aufrechterhalten. Der Zeitpunkt der Ver­öffentlichung des Missbrauchsbericht könnte daher auch mit der strategischen Erwägung zusammenhängen, den Schwung des vergangenen Jahres in die heiße Phase des Wahlkampfes zu tragen.

Doch die Probleme, die sich hinter den Zahlen des jüngsten Berichts verbergen, wurzeln tiefer, wie immer neue Skandale belegen. Im Sommer hatte der Fall einer Besserungsanstalt für Jugendliche in der Budapester Szölö-Straße für Aufsehen gesorgt. Dort wurde einem früheren Di­rektor vorgeworfen, jugendliche Insassen missbraucht und zur Prostitution gezwungen zu haben. Auch hier wurde gemunkelt, dass die Verbindungen bis in höchste Machtebenen reichten, allerdings gab es dafür keine stichhaltigen Belege.

Doch folgte der Fall einem bekannten Muster: Bald nach Öffentlichwerden des Skandals hieß es von Kinderschutzorganisationen, die Vorwürfe seien schon seit vielen Jahren bekannt, doch seien die Behörden nie eingeschritten. In der vergangenen Woche kamen schließlich neue Bilder einer Überwachungskamera an die Öffentlichkeit, die zeigen sollen, wie der Anstaltsdirektor in der Anstalt in der Szölö-Straße gegen den Kopf eines Jungen tritt. Die Polizei nahm daraufhin vier weitere Mitarbeiter fest.

Am Sonntag, einen Tag nach dem großen Demonstrationszug, kamen etwa tausend Menschen vor die Besserungsanstalt in der Szölo-Straße. Dort trafen sie sich mit Lichtern zum stillen Protest.