Normandie: Frankreich wie ein Gemälde

Genau 28-mal verewigte Claude Monet die Kathedrale Notre-Dame von Rouen, die für viele Menschen die schönste in Frankreich ist. Auf alle Fälle ist sie mit ihrer 151 Meter hohen gusseisernen Turmspitze die höchste des Landes. Ein Geschäft für Damenunterwäsche im zweiten Stock eines Hauses gegenüber der prachtvoll verzierten Westfassade der Kathedrale diente Monet als Atelier für neun seiner Werke. Als sich die Ehemänner der Frauen beschwerten, zog der Künstler auf der „Place de la Cathédrale“ einfach ein paar Häuser weiter. Die Kathedrale mit ihrem spätgotischen Flamboyant-Stil blieb nämlich sein Lieblingsmotiv.

Monet, der Schlüsselfigur des Impressionismus, ging es darum, mit seinen Pinselstrichen das besondere Licht einzufangen, das zu jeder Tageszeit herrschte. Die dreischiffige Basilika betrat er übrigens erst, als er all seine Werke beendet hatte. Die Bilder hängen heute in den wichtigsten Museen der Welt und tragen so zum Ruhm der normannischen Hauptstadt bei.

Das Wahrzeichen der Stadt ist jedoch der Uhrenturm „Le Gros-Horloge“ mit seiner as­tronomischen Uhr und seinem Renaissance-Bogen. Ein goldenes Schaf im Zifferblatt symbolisiert den Reichtum, den die die Stadt einst dem Wollhandel verdankte. Von ganz oben scheint man über die Dächer von Rouen mit seinen vielen prächtigen Abteien und Kirchen zu schweben. „Unsere Stadt ist ein Gesamtkunstwerk und ist auch für ihre 2000 Fachwerkhäuser berühmt, viele davon stammen aus dem Mittelalter“, erklärt die Kunsthistorikerin Yannick Bugeon. Interessant sind die keck vorspringenden Dachgeschosse, mit denen man mehr Wohnraum gewann.

Und natürlich ist Rouen vor allem die Stadt von Jeanne d’Arc, der Jungfrau von Orleans, der in einem ehemaligen Bischofspalast ein eigenes Museum gewidmet ist. An der Stelle, an der die Nationalheldin Frankreichs im Jahr 1431 verbrannt wurde, steht heute auf der „Place du Vieux-Marché“ eine riesige moderne Kirche, die den Platz dominiert. Ihre Form soll an einen Scheiterhaufen erinnern, im Inneren leuchten farbenfrohe Glasfenster aus dem 16. Jahrhundert. Sie stammen von der Kirche Saint-Vicent, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.

Auf dem schmucken Platz steht auch die in einem Fachwerkhaus untergebrachte älteste Taverne Frankreichs, die Couronne, die einen perfekten Blick auf die Kirche bietet. Sie wurde 1345 eröffnet und wird seit vielen Jahrzehnten von Regierungschefs, Schauspielern und Promis aus aller Welt angesteuert, wie die spannende Fotogalerie im Treppenaufgang beweist. Ingrid Bergmann die im gleichnamigen Hollywood-Film Jeanne d’Arc verkörperte, hat sich hier ebenso verewigt, wie Romy Schneider, Sofia Loren, Brigitte Bardot und viele andere Künstler.

Im Umland von Rouen erstrecken sich entlang der Seine, ebenfalls einem der Lieblingsmotive des genialen Monet, intakte Naturlandschaften, deren unterschiedliche Lichtstimmungen er perfekt einzufangen wusste. Entlang der Schleifen der Seine dominieren Auenwälder, Moore, Feuchtwiesen und Obstgärten. Nicht umsonst ist die Normandie berühmt für ihre Äpfel, die hier zu Cidre und Calvados ver­edelt werden. Eine ganz besondere Faszination geht von den Marschlandschaften wie etwa dem „Marais Vernier“ aus, das am Südufer der Seine-Mündung unweit des romantischen Städtchens Pont-Audemer liegt. Zwei Naturliebhaber, Christine LeNeveu und ihr Mann Thierry Lecomte schafften es mit ihrem Engagement, dass das Moor vor 30 Jahren zum Naturschutzgebiet erklärt wurde.

Auf eine behutsame und nachhaltige Stadtentwicklung setzt auch die Stadt Caen, die 2025 ihr 1000-jähriges Stadtjubiläum feiert, denn das historische „Cadomus“ wurde zum ersten Mal im Jahr 1025 in einem Dokument erwähnt. Dominiert wird die Stadt von einer auf einem Felsen errichteten Festungsanlage, die mit mehr als fünf Hektar Fläche zu den imposantesten mittelalterlichen Burgen Europas zählt. Bis heute kann man hier auf den Spuren von Wilhelm dem Eroberer wandeln, der die Burg 1060 errichten ließ, um seine Macht zu zementieren, was durchaus gelang. Sechs Jahre später besiegte er die Engländer auf ihrem Boden bei der Schlacht von Hastings und wurde in der Westminster Abbey zum König gekrönt.

Mehr als 55.000 der typischen Kalksteine aus Caen wurden während der normannischen Herrschaft über den Ärmelkanal nach England gebracht und unter anderem für den Bau des Tower of London, den Uhrentürmen des Westminster-Palastes und Windsor Castle verwendet. Begraben liegt Wilhelm, der Herzog der Normandie und König von England, in der prachtvollen Abteikirche Abbaye aux Hommes.

Caen profitiert auch von seiner günstigen Lage, nur 15 Kilometer vom Meer entfernt. Ein gut ausgebauter Fahrradweg führt entlang eines künstlichen Kanals neben dem Fluss Orne in ein Ferienparadies voller Dünen und Sandstrände. Die Riva-Bella des Küstenorts Ouistreham ist mit ihren fünf Kilometern Länge einer der Lieblingsstrände der Bewohner von Caen. Von hier gelangt man per Fähre in nur sechs Stunden ins englische Portsmouth. 171 Stufen führen auf den Leuchtturm von ­Ouistreham, dem einzigen, der in der Gegend besichtigt werden kann. Er bietet einen herrlichen Blick auf den Hafen, die Mündung des Orne und die in vielen Farben schimmernden Feuchtgebiete wie die „Gros Banc“, wo zahlreiche Vogelarten nisten. Und auch hier dominiert es bis heute: das ganz besondere Licht der normannischen Küste, das schon die Impressionisten in seinen Bann zog.