Kapitän Jackson Irvine ließ sich rücklings auf den Boden fallen und ballte die Faust. Die Verteidiger Hauke Wahl und Karol Mets lagen sich die Armen. Mittelfeldmann Joel Chima Fujita rannte einfach mal los, weiterhin unter voller Körperspannung, und brüllte sich die Seele aus dem Leib. Und Alexander Blessin, der Trainer? Schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen über den Rasen, gedankenverloren, sichtlich erschöpft, vom Moment offenbar wirklich ergriffen.
Als der Schlusspfiff ertönte, ließ sich an den Reaktionen auf dem Rasen des Hamburger Millerntorstadions leicht erkennen, dass der FC St. Pauli soeben ein nicht gerade unwichtiges Fußballspiel gewonnen hatte. Denn dieses 2:1 gegen den 1. FC Heidenheim war aus Sicht der Kiezkicker genau das, wofür im Fachjargon die Begriffe „Befreiungsschlag“ und „Brustlöser“ vorgesehen sind – ein Sieg, der sich gegen den negativen Trend stemmt, den die St. Paulianer seit Sommer mit sich herumschleppen. Die Leidenswochen dehnten sich zu Leidensmonaten aus, neun Niederlagen in Serie waren jüngst nur von einem Last-Minute-1:1 gegen Köln unterbrochen worden, bei dem zwar das Ergebnis passte, aber sonst nicht viel. St. Pauli war der kranke Mann der Bundesliga. Und natürlich war angesichts dieser schauderhaften Bilanz auch mal die (branchentypische) Frage gestellt worden: Bleibt der eigentlich hochversierte Coach Blessin Teil der Lösung – oder ist er inzwischen ebenfalls Teil des Problems?
„Natürlich leidet man da mit“, sagte Blessin, nachdem er sich aufs Pressepodium gesetzt hatte. Seinem Gesichtsausdruck zufolge hatte dieser Mann einen wirklich harten Tag hinter sich. Ein Eindruck, der sich in den darauffolgenden Sätzen erst recht bestätigte. Gelitten hat Blessin demnach mit „jeder Faser des Körpers“, in jeder Szene, „aber die Mannschaft hat mich nicht im Stich gelassen“. Eine mit dem Schlagbohrer vorgenommene Wurzelbehandlung dürfte sich für ihn während dieser 90 Minuten komfortabler angefühlt haben. „That sucked“, höflich übersetzt: „Das hat genervt.“ So hätten auch die ersten Gedanken von Kapitän Irvine gelautet, als er nach Abpfiff den Blickkontakt mit dem Mittelfeldkollegen James Sands gesucht habe – selbstredend nicht wegen des Endresultats, sondern wegen des steinigen, von Stolperfallen übersäten Weges dorthin.
Es ist nicht bekannt, ob die Bundesliga-Rechtemakler in Indonesien oder Südkorea damit werben, wie packend deutscher Abstiegskampf sein kann. Sollten sie dies tun, würde sich jedenfalls empfehlen, den interessierten Fernsehanstalten das am Samstag produzierte Bildmaterial vom Millerntor vorzuführen und ein paar Hintergrundinfos zu den wichtigsten Protagonisten mitzuliefern. Dabei unbedingt hervorzuheben: St. Paulis angeschlagener und hadernder Coach Blessin, Kapitän Irvine, Schiedsrichter Sascha Stegemann – sowie der in dieser Saison auffällig glücklose Stürmer Martijn Kaars, vom Kiezklub im Sommer verpflichtet für eine vereinsinterne Rekordablöse.
„Die Basis“, findet Trainer Blessin, die sei mit Blick auf den Abstiegskampf nun endlich gelegt
Zu Beginn waren die Heidenheimer das drückendere Team, während den St. Paulianern anzumerken war, dass dreieinhalb sieglose Monate „etwas mit einem machen“, wie es bei Markus Lanz heißen würde. Doch dann, in der 19. Minute, schnappte sich Irvine im Mittelfeld den Ball. Der Australier ließ den ersten Heidenheimer stehen, drückte sich mit viel Körpereinsatz am zweiten vorbei und spielte ein sauberes Pässchen auf Angreifer Mathias Pereira Lage, welcher die Torchance zwar liegen ließ. Doch die Partie bekam daraufhin eine neue Stilrichtung verpasst. Auf einmal sei „Leichtigkeit“ zu spüren gewesen, sagte Blessin, einstudierte „Muster“ konnten endlich wieder in die Praxis überführt werden.
So in etwa hatten sich Blessin und St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann das im Sommer mal vorgestellt: Die Heimelf reagierte nicht nur, sie agierte phasenweise auch, und zwar flott und vertikal nach vorn. Insbesondere der gedankenschnelle Japaner Fujita und der sprintstarke Stürmer Kaars verkörpern jene Spielidee, von der in den vergangenen Wochen kaum was zu sehen war; in der 35. Minute erblickte die Idee dann das Licht der Welt: Fujita steckte auf Kaars durch, der den Ball zum 1:0 ins Eck drosch. Es handelte sich um das erste Erstligator des vom Zweitligisten Magdeburg verpflichteten Niederländers.
„Ich wusste, dass es in der Bundesliga für mich schwieriger wird“, sagte Kaars, eine transparente Selbsteinschätzung, die in dieser Spielzeit nicht zu übersehen war. Der Kiezklub absolvierte mit Ball seine wohl beste Halbzeit der Saison, eine Fahrlässigkeit des Abwehrmanns Eric Smith machte nach Wiederanpfiff jedoch eine Rückbesinnung auf resolute Gegen-den-Ball-Arbeit erforderlich.

Smith, seit Wochen mit abschüssiger Formkurve, vertändelte an der Mittellinie den Ball und zupfte daraufhin am Trikot von Marvin Pieringer, um den Heidenheimer Konter zu unterbinden. Als letzter Mann? Abwehrkollege Hauke Wahl war auf ähnlicher Höhe unterwegs. Machte Pieringer viel aus dem Zupfer? Auf jeden Fall. Schiedsrichter Stegemann jedenfalls zeigte Smith die rote Karte. Eine harte Entscheidung, die die St. Paulianer hinterher höchstens in Nebensätzen thematisierten, weil sie lieber davon erzählten, wie sie 45 Minuten lang mit aller Kraft und viel Geschick gegen den nächsten Rückschlag ankämpften. Beherzt warfen sie sich in jedes Nahduell; Kapitän Irvine munterte auf und trieb an; Fujita schickte Kaars erneut in die Tiefe, erneut wuchtete der 26-Jährige den Ball ins Tor (53.). Und auch nach Heidenheims 1:2-Anschlusstreffer (64.) blieb St. Pauli cool.
„Die Basis“, sagte Coach Blessin, die sei mit Blick auf den sich nun intensivierenden Abstiegskampf gelegt. Kein schlechter Zeitpunkt: Am kommenden Sonntag steht das Duell mit dem Tabellenletzten Mainz auf dem Programm.

