Ein Wandbild ziert das kleine Kinderzimmer. Winnie Pooh und sein rosarotes Ferkel strahlen von der weißen Wand, blicken auf Wickelkommode und Gitterbettchen. Ein Postauto ist vor einem Regal mit Kinderbüchern geparkt. Es ist ein Kinderzimmer wie viele andere. Es ist das Kinderzimmer von Jonathan.
Der Hausherr sitzt in seinem kleinen Reich auf dem Boden, die Beine schräg von sich gespreizt, eine Spielfigur in der Hand. Mit seinen zehn Jahren und sieben Monaten ist er 92 Zentimeter groß und zehn Kilogramm schwer. Denn Jonathan lebt mit dem seltenen Gendefekt Mikrozephaler Osteodysplastischer Primordialer Kleinwuchs Typ 1 – kurz MOPD1. Seine Mutter Simone Braunsdorf sagt, dass deutschlandweit aktuell nur 25 Kinder mit diesem oder ähnlichen Gendefekten leben, weltweite Schätzungen gehen von unter 500 Betroffenen aus. Sie alle gehören zu den kleinsten Menschen der Welt.
Neben der extrem geringen Körpergröße seien ein kleiner Kopf und Hirnfehlbildungen für MOPD1 typisch, sagt Simone Braunsdorf und streicht ihrem Sohn dabei über den Kopf, der mit einem Umfang von 36 Zentimetern so groß ist wie der mancher Neugeborener. Man merkt ihr an, dass sie schon oft über den Gendefekt ihres Sohnes aufgeklärt hat. Jonathan ist nicht nur klein, auch sein Sehvermögen ist eingeschränkt, er kann nicht selbständig laufen und ist nonverbal. Seine Kommunikation besteht aus Lauten und Zeichen. Damit ist Jonathan schwerbehindert und pflegebedürftig – 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.
Aufklärung auf Instagram
Simone Braunsdorf spricht schon lange öffentlich über das Leben mit „Joni“, wie sie ihren Sohn liebevoll nennt. Seit 2018 teilt sie den gemeinsamen Alltag auf dem Instagram-Account „jonathan_ein_leben_mit_mopd1“ und klärt über die Situation pflegender Eltern auf. 33.000 Accounts folgen ihr inzwischen und lesen ihre Gedanken mit. „In diesem Jahr liegen bereits fünf Krankenhausaufenthalte hinter uns“, schrieb sie im September unter einem Bild, das Jonathan im Rollstuhl zeigt, und fragte sich und ihre Follower: „Was machen diese vielen Krankenhausaufenthalte mit Jonathan?!“Weiter erzählte sie, dass Jonathan viel weine und schlecht schlafe. Er müsse bei den Behandlungen Dinge erleben, die er nicht zuordnen könne.

In anderen Posts schreibt Simone Braunsdorf über Jonathans Medienkonsum und ihre eigene psychische Gesundheit, teilt aber auch Fotos von Ausflügen und Dank für erlebte Unterstützung. „Wir wollen unsere Herausforderungen zeigen, aber auch, dass das Leben mit Jonathan schön ist“, sagt Simone Braunsdorf und findet, dass Inklusion nur durch Aufklärung funktionieren könne. „Langsam tut sich was in den Köpfen der Menschen, und Instagram ist eine gute Plattform, um Bewusstsein zu fördern“, sagt sie.
Jonathan werde gerne fotografiert. „Und wenn er mal nicht möchte, dann mache ich es auch nicht. Ich überlege genau, was ich poste und was nicht.“ Am 17. November, dem Weltfrühgeborenentag, thematisierte sie auf Instagram Jonathans Geburt – denn auch er war ein Frühchen.
Nach der Geburt an Adoption gedacht
Schon die Schwangerschaft mit Joni sei schwierig gewesen. Er sei auf Ultraschallbildern sehr klein gewesen. „Ich hatte viel Angst, weil ich schon eine Fehlgeburt mit Zwillingen hatte. Aber Sorge vor einer Behinderung hatte ich eigentlich nicht“, sagt Simone Braunsdorf. Im April 2015 kam Jonathan am ersten Tag des achten Monats per Notkaiserschnitt zur Welt. Damals war er 29 Zentimeter groß und 490 Gramm schwer.
„Er war so klein, dass er fast auf meine Hand gepasst hat, und hing an lauter Schläuchen. Es war sehr schwer, in dieser Situation eine Beziehung aufzubauen“, sagt Simone Braunsdorf, die offen über die ersten Tage im Leben ihres Sohnes spricht. „Als er da war, ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Ich dachte, ich schaffe das nicht“, erzählt sie und erklärt: „Meine Mutter starb, als ich 14 war. Als mein älterer Sohn fünf war, starb mein Partner. Ich dachte, ich habe genug Gepäck im Rucksack. Ich kann nicht mein eigenes Kind beerdigen.“
Heute spricht Simone Braunsdorf offen darüber, dass sie Jonathan damals eigentlich zur Adoption freigeben wollte. Sie wisse, dass es anderen Eltern in ähnlichen Situationen genauso gehe, und wolle ihnen sagen, dass sie nicht allein mit diesen Gedanken sind. Dass Jonathan vor zehn Jahren nicht adoptiert wurde, verdanke Simone Braunsdorf ihrem Mann Andreas: „Er hat gesagt: ‚Entweder du fährst jetzt ins Krankenhaus und kümmerst dich um deinen Sohn, oder du fährst zum Amt und holst die Adoptionsunterlagen ab.‘ Er wusste, dass ich das nicht konnte.“ Heute ist Simone Braunsdorf dankbar dafür: „Seit diesem Moment habe ich kein einziges Mal daran gezweifelt, Jonathan behalten zu haben.“
Lebenserwartung von nur wenigen Monaten
Die ersten Monate seines Lebens verbrachte Jonathan im Krankenhaus. Alle wussten, dass etwas nicht stimmte. Aber keiner erkannte, was es war, bis eine Humangenetikerin auf die Familie zutrat. „Sie vermutete etwas sehr Seltenes, denn sie hatte erst wenige Monate zuvor MOPD1 diagnostiziert. Dass eine Ärztin zweimal in ihrem Leben diese seltene Diagnose stellt, ist eigentlich fast unmöglich“, sagt Simone Braunsdorf.
Mit fünf Monaten durfte Jonathan nach Hause. „Uns wurde gezeigt, wie man Magensonden zieht und legt, damit wir das zu Hause selbst machen konnten, wenn kein Pflegedienst verfügbar war“, erinnert sich Simone Braunsdorf. Mehr als zehn Jahre ist das nun her. Dass sie heute davon erzählen kann und Jonathan währenddessen im Hintergrund am Boden spielt, war damals kaum vorstellbar. Denn die durchschnittliche Lebenserwartung von Kindern mit MOPD1 liegt bei wenigen Monaten.
Als „lebensveränderndes Ereignis“ bezeichnet Simone Braunsdorf, als die Familie mit der „Walking With Giants Foundation“ in Kontakt kam. Die englische Organisation vernetzt weltweit Familien, deren Kinder wie Jonathan von Gendefekten der Gruppe MPD betroffen sind. 2018 nahmen Jonathan und seine Eltern am jährlichen Vereinstreffen in Liverpool teil und kamen erstmals persönlich mit anderen Betroffenen in Kontakt.
Dieses Erlebnis war so prägend für Simone Braunsdorf und ihren Mann Andreas Kremer, dass sie selbst einen Verein gründeten: Walking With Giants Germany vernetzt seit 2018 Betroffene in ganz Deutschland, sammelt Spenden und setzt sich für Forschung über die seltenen Gendefekte ein. „In der ehrenamtlichen Vereinsarbeit habe ich meinen Sinn im Leben gefunden und den Sinn hinter Jonathans Gendefekt“, sagt Simone Braunsdorf, die dem Verein bis heute vorsteht.
Angebote für Geschwisterkinder
Die Gendefekte seien so selten, dass es wenig Forschung darüber gebe. Einige betroffene Familien seien erst durch Vernetzung mit US-amerikanischen Forschungsteams zur Diagnose gekommen. Alle Vereinsfamilien würden von dem Austausch über Therapien und Hilfsmittel profitieren, besonders aber von dem Wissen, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein. Manche Kinder habe man schon gemeinsam beerdigt. Einmal im Jahr treffen sich die inzwischen 30 Familien zu einem gemeinsamen Wochenende, das besonders Geschwisterkindern eine unbeschwerte Zeit bieten soll. Denn Simone Braunsdorf weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr diese von der Pflegesituation herausgefordert werden: Ihr großer Sohn ist heute 19, ihre Stieftochter 24.

Die beiden mussten auch kritische Momente in Jonathans kurzem Leben miterleben: 2018 wurde er an den Beinen operiert, verbrachte acht Wochen in einer bayerischen Spezialklinik. Dort erlebte er einen Krampfanfall, der Mama Simone bis heute nicht loslässt: „Als Eltern so hilflos neben seinem Kind zu stehen, das prägt einen“, sagt sie. Ein Jahr später bekam Jonathan eine Enzephalitis, eine Entzündung im Gehirn. „Die Ärzte wussten nicht, ob er das überlebt. Wir haben uns schon von ihm verabschiedet“, erinnert sich Simone Braunsdorf und sagt mit einem stolzen Seitenblick auf ihren Sohn: „Aber er hat sich zurückgekämpft.“ Danach seien „die ganz großen Katastrophen“ ausgeblieben.
Dabei war auch die Corona-Pandemie eine schwierige Zeit, in der die Familie knapp drei Jahre lang fast komplett isoliert war. „Kinder mit MOPD1 haben ein sehr schwaches Immunsystem und sterben immer und ausschließlich an Infekten“, erklärt Simone Braunsdorf die strenge Isolation.
Mit der Einschulung gewann das Leben Normalität
Noch in den Pandemieausläufern, im Sommer 2022, wurde Jonathan eingeschult. Nach einem Jahr im Homeschooling besucht er seit 2023 zwei bis drei Stunden täglich die Förderschule im nahen Limburg. Dort lernt er Alltagsstrategien wie Rollstuhlfahren, Farben und Formen sortieren und Metacom, ein bilderbasiertes Kommunikationssystem. Auch die soziale Interaktion in der Schule ist laut Mama Simone wichtig. Jonathan lerne, Emotionen zu erkennen und mit Konflikten umzugehen. „Die Schule gibt uns etwas mehr Normalität“, sagt Simone Braunsdorf.
Außerhalb der freien Zeit geben Medikamente, Therapien und Arztbesuche den Rhythmus der Familie vor. Neunzehn Mal am Tag bekommt Jonathan Medikamente, vor allem Elektrolyte, denn diese scheidet er unkontrolliert über den Urin aus. Das kann lebensbedrohlich sein. Neben der Logopädie in der Schule kommen privat Reittherapie, Physiotherapie und Osteopathie hinzu. Darüber hinaus muss Jonathan regelmäßig zu verschiedenen Ärzten und in die Kinderklinik. „Er verpasst viel Unterricht“, sagt Mutter Simone mit Blick auf die lange Terminliste. Freizeit sei für Eltern und Kind so manchmal rar. „Dann spielt er am liebsten mit Brillen“, erzählt Simone Braunsdorf. Er stehe aber auch gerne an der Straßenkreuzung im Ort und beobachte die Autos. Vor allem für Motorräder und Fahrräder begeistere er sich.
„Manchmal treffen wir uns mit Kindern aus der Förderschule. Aber er wird selten zu Geburtstagsfeiern eingeladen, und es klingelt natürlich nie ein Nachbarskind, um mit ihm draußen zu spielen“, sagt Simone Braunsdorf und wirkt dabei nachdenklich.
Pflege bedeutet auch hohe Kosten
Wenn Jonathan zu Hause ist, kann sie ihn nicht allein lassen: „Sogar auf die Toilette muss ich ihn mitnehmen.“ Jonathan habe kein Gefahrenbewusstsein, würde irgendwo hochklettern und sich dann einfach fallen lassen. „Pflege ist ein Vollzeitjob ohne Urlaub und ohne Bezahlung. Dass das Pflegegeld nur für die Gepflegten und nicht auch für die Pflegenden gedacht ist, ist die größte Sauerei, die es in Deutschland gibt“, sagt Simone Braunsdorf, die früher Führungskraft in einem großen Unternehmen war und seit Jonathans Geburt pflegende Mutter „in Vollzeit“ ist. „Ich habe in dieser Zeit keinen einzigen Tag Arbeitslosengeld bekommen, weil ich dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe, wenn ich Jonathan pflege“, sagt sie.
Aus dem Austausch mit Vereinsmitgliedern wisse sie, dass die finanzielle Situation für fast alle betroffenen Familien eine große Herausforderung ist. „Wenn ein Elternteil nicht arbeiten kann, fehlt oft das Geld. Zumal Krankenkassen nicht alles zahlen, was man braucht“, sagt Simone Braunsdorf und kommt gleich auf ein aktuelles Beispiel zu sprechen: „Unser Immunologe hat vor einigen Wochen die RSV-Impfung für Jonathan empfohlen.“ Weil die Impfempfehlung der STIKO aber nur bis zum zweiten Geburtstag gilt, habe die Krankenkasse die Kosten nicht übernommen. „Die 545 Euro haben wir selbst gezahlt“, sagt Simone Braunsdorf dazu.
Ihr Verein Walking With Giants Germany sammle Spenden, um betroffene Familien in ähnlichen Situationen unterstützen zu können. „Spendenaufrufe fallen niemandem leicht, aber manchmal geht es nicht anders“, betont Simone Braunsdorf, die selbst kein Vereinsgeld für Jonathan annehme. „Denn dazu benötigt man einen Beschluss des Vorstands, und der besteht aus mir, meinem Mann und meinem Vater. Und wir sind als Angehörige natürlich voreingenommen.“
Inklusion bisher nur auf dem Papier
Auch die bürokratischen Hürden, die als pflegende Angehörige immer wieder genommen werden müssten, belasten die Familie. Damit ist sie nicht allein: Laut einer Umfrage von Pflege.de, einem Informations- und Serviceportal über häusliche Pflege, ist Bürokratie für 81 Prozent der Befragten die größte Belastung der Kinderpflege. „Wir beschäftigen uns mehr mit Anträgen und Unterlagen als mit unseren Kindern. Für jeden Mist müssen wir gefühlt 35 Dokumente ausfüllen“, sagt Simone Braunsdorf genervt und wünscht sich mehr Unterstützungsangebote – auch bei der Entlastung im Alltag: „Theoretisch hat die Pflegekasse einen Topf für Kurzzeitpflege. Praktisch gibt es viel zu wenige Plätze in den Einrichtungen. Und theoretisch könnten wir mal eine Mutter-Kind-Kur machen. Aber in der Realität sind kaum Einrichtungen auf Kinder mit Behinderung ausgelegt.“
Auch Inklusion bestehe für Simone Braunsdorf in Deutschland nur auf dem Papier: „Ich habe noch nie einen Spielplatz für Kinder mit Behinderung gesehen. Sie werden nicht mitgedacht“, sagt sie. Die Niederlande seien da schon deutlich weiter. Eine Untersuchung der Aktion Mensch bestätigt diese Perspektive. Im Februar 2024 stellte sie in Deutschland erhebliche Defizite in der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen fest.
Nonstop-Pflege, Bürokratie, Finanzsorgen – „mein Mann und ich, wir sind beide am Limit. Aber er ist es mir wert“, sagt Simone Braunsdorf über ihren Sohn Jonathan, der im Hintergrund fröhlich auf dem Parkettboden herumkrabbelt. Er hat eine rosafarbene Sonnenbrille auf der Nase und zeigt immer wieder mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sie, als wolle er aller Welt sein Schmuckstück präsentieren. Dass Jonathan kein Zehnjähriger wie andere Zehnjährige ist, falle der Familie vor allem bei Veranstaltungen mit anderen Kindern auf. „Dann stehen wir oft im Mittelpunkt und werden regelrecht angestarrt. Man fühlt sich dann schon etwas aussätzig“, sagt Simone Braunsdorf. Trotzdem komme manchmal unbeschwerter Familienalltag auf, bei gemeinsamen Unternehmungen zum Beispiel oder im Urlaub.
Simone Braunsdorf gibt zu, manchmal erschöpft zu sein. „Aber ich habe gelernt, aus weniger Zeit mehr Kraft zu schöpfen. Die kurzen Momente der Entspannung, in denen ich mit einer Freundin telefoniere oder ein gutes Buch lese, sauge ich besser auf“, sagt sie. Sie sei über die Jahre resilienter geworden, sagt sie. „Wir schieben nichts mehr auf die lange Bank, weil wir nicht wissen, was im nächsten Jahr ist. Wir sind uns unserer eigenen Sterblichkeit und der von Jonathan jeden Tag bewusst.“
Einen großen Wunsch für die Zukunft hat Simone Braunsdorf trotzdem: „Wir möchten, dass Jonathan zwanzig Jahre alt wird“, sagt sie, ohne auch nur eine Sekunde überlegen zu müssen. Dann blickt sie auf ihren Sohn, der gerade ins Esszimmer hereingekrabbelt kommt und sich aufsetzt. Er hat ein breites Grinsen im Gesicht und fuchtelt fröhlich mit den Händen in der Luft herum, als wolle er seiner Mutter dabei kräftig zustimmen.
