Ukrainekrieg: Wolfgang Ischinger und Sylvie Goulard fordern ein Kerneuropa, das vorangeht

Die Welt verändert sich schnell. Dass Europa angesichts militärischer Bedrohungen, strategischer Unsicherheiten sowie tiefgreifender demographischer, technologischer und ökologischer Veränderungen handeln muss, ist nichts Neues. Doch wenn man die Nationale Sicherheitsstrategie der USA ernst nimmt, steht Europa vor seiner „zivilisatorischen Auslöschung“. Das ist eine drastische Sprache, die Europa zwingt, sich zu behaupten.

Das europäische Projekt steht heute vor großen Risiken: der militärisch-strategischen Bedrohung durch Russland, der überwältigenden wirtschaftlichen Flut aus China und der strategisch-kulturellen Distanzierung der Vereinigten Staaten von der EU – mit schwer vorhersehbaren Folgen. Ohne effiziente Entscheidungsprozesse in der Sicherheits- und Außenpolitik der EU schwächen wir uns selbst. Ohne autonome Verteidigungsfähigkeiten und ohne eigene kritische Finanzinfrastruktur ist selbst der Binnenmarkt kein Trumpf mehr.

Von Helmut Kohl lernen

Angesichts dieser beunruhigenden Diagnose wird die Frage, wie Europa sich nun behaupten kann, zu einer existenziellen. Bundeskanzler Merz erklärte in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 14. Mai 2025: „Deutschland wird Initiativen ergreifen, um die europäische Idee der Freiheit und des Friedens neu zu beleben, damit Europa seinem Anspruch und seiner Bedeutung in der Welt gerecht wird.“

Anschließend zitierte er Helmut Kohl aus einer Rede von 1996: „Wir wollen und dürfen nie aus den Augen verlieren, dass wir in Europa vor allem eine Werte- und Kulturgemeinschaft bilden.“ Dieser kurze Satz mag bereits eine knappe Antwort auf die Herausforderung der US-NSS sein. Wir müssen unseren Glauben an den Geist der europäischen Integration, an das historische Nachkriegserbe bewahren, um uns selbst treu zu bleiben.

Sylvie Goulard war Mitglied des Euro­päischen Parlaments und französische ­Verteidigungsministerin. Sie ist Mitglied des Stiftungsrates der Münchner Sicherheits­konferenz.
Sylvie Goulard war Mitglied des Euro­päischen Parlaments und französische ­Verteidigungsministerin. Sie ist Mitglied des Stiftungsrates der Münchner Sicherheits­konferenz.AFP

Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat seit seiner ersten Rede an der Humboldt-Universität in Berlin und seiner berühmten Sorbonne-Rede im Jahr 2017 wiederholt dazu aufgerufen, Europa zu größerer Eigenständigkeit und strategischer Autonomie zu führen, um uns besser schützen zu können.

Kerneuropa-Idee wiederbeleben

In diesem doppelten Ansatz von Merz und Macron liegt eine große, geradezu historische Chance. Wenn nicht jetzt, wann wird Europa einen entscheidenden Schritt tun, um seine Existenz zu sichern und seine Zukunft zu schützen?

Zwei konkrete Vorschläge ergeben sich:

– Erstens ist es überfällig, die Außenpolitik der EU von der Lethargie des Einstimmigkeitsprinzips zu befreien. Wenn nicht alle 27 Mitgliedstaaten der Meinung sind, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist, bietet die „Kerneuropa“-Idee von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers eine Lösung: eine Pioniergruppe, die die Integration vorantreibt. Eine solche Gruppe könnte zeigen, dass es möglich ist, mit einer Stimme zu sprechen. Das wäre nicht nur ein starkes Signal an Washington, sondern auch genau die richtige Botschaft an Moskau und Peking. Zudem könnte sie insbesondere im Technologiebereich eine neue Ebene der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit fördern.

Wolfgang Ischinger war Staatssekretär des Auswärtigen Amtes sowie Botschafter in Washington und London. Er leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz.
Wolfgang Ischinger war Staatssekretär des Auswärtigen Amtes sowie Botschafter in Washington und London. Er leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz.dpa

– Der zweite Vorschlag betrifft die Bereitschaft, Europa jenseits des institutionellen Rahmens der EU zu verteidigen. Das muss das Vereinigte Königreich einschließen sowie weitere NATO- und EU-Partner, die bereit und fähig sind, in einer „Koalition der Willigen“ mitzuwirken. Dieser informelle Führungszirkel könnte auf der EU-3 oder auf der Gruppe europäischer Staats- und Regierungschefs aufbauen, die im August im Weißen Haus zusammenkamen.

Er könnte sich auch ohne Institutionalisierung zu einer stabilen Kontaktgruppe für die Ukraine entwickeln – und darüber hinaus die Konsolidierung des europäischen Verteidigungsmarktes vorantreiben. Es ist höchste Zeit, den ineffektiven Flickenteppich in Europa zu einem großen und global wettbewerbsfähigen Verteidigungsmarkt zu bündeln.

Angesichts bestimmter Sorgen über das wachsende Gewicht Deutschlands in der sich dynamisch entwickelnden europäischen Verteidigungsindustrie erinnert man sich an Thomas Mann, der ein europäisches Deutschland statt eines deutschen Europas forderte: Das Ziel bleibt ein geeintes Europa, das sich verteidigen kann – mit immer stärkerer militärischer und politischer Integration sowie einem eigenständigen und wettbewerbsfähigen europäischen Verteidigungsmarkt.

Es ist Zeit zu handeln – jetzt und schnell. Es wäre ein Paukenschlag für Europa und ein Warnschuss vor den Bug der Widersacher der Idee der europäischen Integration. Wir hatten ein Europa der getrennten Nationen. Es brachte uns Kriege und Zerstörung, es brachte uns Verdun und Auschwitz. Nie wieder!