„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“: Sexy Ostmänner gesucht

Müssen Männer Helden sein? Nach Meinung von Micha keineswegs. Der gutmütig verwuschelte Ossi – nicht nur die Frisur ist immer out of bed – lebt zufrieden in seiner aus der Zeit gefallenen Videothek, die kaum jemand besucht, in der er aber gut und lange schläft. Anders verhält es sich mit der coolen Staatsanwältin Paula. Sie interessiert sich für den Schlurfi erst, als sie erfährt, dass er 1984 die erste Massenflucht aus der DDR ermöglicht haben soll, und zwar per S-Bahn, indem er eine Weiche am Bahnhof Friedrichstraße verstellte.

Der schwammige Bursche – gespielt von Charly Hübner in bekannt unübertrefflicher Schwammigkeit – erscheint ihr plötzlich attraktiv und sexy. Micha nimmt es dankbar hin, obwohl seine Augen ungläubig hervorquellen – beziehungsweise Charly Hübners Augen in ihrem bekannt unübertrefflichen Hervorquellvermögen. So weit der amouröse Handlungsstrang, der hart an die Grenze zur Schmierencharakterkomödie geht.

Es ist dann aber doch alles so harmlos nicht. Denn Micha war kein Dissident oder Regimegegner, nicht einmal aufsässig, er hat nur aus Versehen die Weiche verstellt, wie es auch die Stasi seinerzeit erkannte, nachdem sie ihn für zwei – eher gemütliche – Tage in Haft genommen hatte. Erst die Westpresse beschließt dreißig Jahre danach, ihn zum Helden des Widerstands zu machen, weil sie genau eine solche Geschichte haben will, um aus dem Einerlei des Mauerfallgedenkens herauszukommen. Leon Ullrich in der Rolle des skrupellosen Reporters gibt eine genialische Parodie auf den windigen, glatten und kitschbesoffenen Magazinjournalisten. Er kauft den Schwindel bei Micha – buchstäblich, gegen Bargeld.

Übertreibung? Eher nicht, nach allem, was wir in den vergangenen Jahren über die erfundenen Reportagen des Claas Relotius erfahren haben. So nimmt die Sache recht plausibel ihren Lauf, bis hin zum Empfang des falschen Helden beim Bundespräsidenten und einer fast gehaltenen Rede vor dem Bundestag. Ist Micha unwohl dabei? Unwohl und wohl zugleich. Geschichtslügen haben Vorzüge: Alle fühlen sich besser dabei. Das Spiel mit Täuschung und Selbsttäuschung und gnädigem Betrug, das Wolfgang Becker schon in Good Bye, Lenin! so virtuos entfaltet hat, kehrt noch einmal zurück in diesem seinem letzten Film (er starb zum Ende der Dreharbeiten). Aber während es in Good Bye, Lenin! darum ging, die untergegangene DDR für eine gläubige Sozialistin aufrechtzuerhalten, um ihr den Schock der Wende zu ersparen, geht es in Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße umgekehrt darum, den Untergang vorweggenommen und beschleunigt zu haben.

Auch dies eine nachträgliche Fiktion, die eine kollektive Sehnsucht befriedigt – aber jetzt nicht nach harmloser Alltäglichkeit im Sozialismus, sondern im Gegenteil nach größerer Unzufriedenheit und tollerem Widerstand. Hätte es doch mehr Dissidenten gegeben! Und nicht nur diese vollbärtigen Zotteltypen wie den, der hier von Thorsten Merten gespielt wird, mit stillem Ingrimm und missionarischer Würde, die glaubhafteste Figur des Films – als sei sie aus der grauen Realität hereingeschneit. Der echte Dissident, der nichts hermacht und für den sich nur noch Schulen interessieren, ist das genau spiegelsymmetrische Gegenstück zu dem haltlosen Aufschneider wider Willen, den sich die Medien erkoren haben. Am Ende sieht es freilich so aus, als könnten sie auch ihre Rollen tauschen und jeder das schlechtere Selbst des anderen spielen.

Wolfgang Becker ist ein Meister solcher Doppelbelichtungen und Spiegelverwirrungen. Man erkennt es im Vergleich mit der Romanvorlage von Maxim Leo: Die dialektischen Zuspitzungen und logischen Paradoxien hat nur der Film. So wie es Good Bye, Lenin! erging – die deutschen Rezensenten nahmen den Film mürrisch auf, und erst der Publikumserfolg brachte die Kritik dazu, das raffinierte Erzählgebäude zu erkunden –, so wird es auch dem Film Held vom Bahnhof Friedrichstraße ergehen. Auf den ersten Blick ein solide gezimmertes Lustspiel mit einem Hauch Vorkriegskino in der geometrischen Dramaturgie, auf den zweiten Blick tückisch und raffiniert und irgendwie bodenlos, im wörtlichen Sinne: Man fällt durch den Film, seine vordergründige Unterhaltsamkeit, hindurch ins Nichts einer ungreifbaren Realität. Alles ist hier Projektion und folgt einer romantischen Gier nach dem Anderen, dem Nicht-Identischen. Das ist der tiefere Sinn der erotischen Nebenhandlung – in der Staatsanwältin Paula, kess und kapriziös gespielt von Christiane Paul, verdichtet sich das Begehren des Westens nach einem besseren Osten. Unbedingt will sie ihren sexy Ostmann, der ein Schlurfi ist, kein Westmacho, aber das Zeug zum Helden hat. Dass es ihn nicht gibt, dass sie ihn zwar haben kann, aber nicht als das ideale Objekt ihrer Begierde, macht das Tragisch-Satirische des Films aus. Dass sie ihn dann schließlich auch so nimmt, als Schlurfi, ist die versöhnliche Pointe. Ein bisschen platt wirkt die plötzliche Gutherzigkeit schon, aber vielleicht ist es die Plattheit der echten Humanität, die ohne Prätentionen auskommt.