Wie New Wave in Sheffield begann: Das Space Age landete in einer britischen Doppelhaushälfte

Da war doch was im Trinkwasser! An dieser Vermutung ist sicherlich etwas dran, sie reicht aber nicht aus, um das Talente-Cluster zu erklären, das Ende der 1970er Jahre Sheffield zum popmusikalischen Mittelpunkt Englands und dann auch von Westeuropa machte.

Bands wie Cabaret Voltaire, The Human League, Heaven 17, Clock DVA und ABC fluteten im Geist von DiY-Punk die nordenglische Stadt mit elektronisch grundiertem Pop; Elemente von Krautrock, Freejazz und Dada kamen ebenfalls in ihrem Sound zum Vorschein, der damals New Wave genannt wurde. Und doch klangen diese Sheffielder Bands so eigenwillig wie zukunftsweisend. Songs, wie etwa „Don’t You Want Me“ (Human League), „(We Don’t Need This) Fascist Groove Thang“ (Heaven 17), oder „Nag Nag Nag“ (Cabaret Voltaire) waren nicht nur Hits, sie trugen ganz grundsätzlich zur Genese der Genres Synthiepop, Gothic und Industrial bei.

Die Band Clock DVA, gegründet 1978 von Sänger Adi Newton und Bassist Steven Turner, begann als Improvisationsprojekt, dessen wechselnde Bandmitglieder eine Vorliebe für präparierte Instrumente, Fieldrecordings und analoge Keyboards hatten. Ihr Debütalbum „White Souls in Black Suits“ wurde 1980 nur auf Kassette bei dem Label Industrial Records von Throbbing Gristle veröffentlicht. Die Songs waren Kurzfassungen von mehrstündigem Sessionmaterial. Nun erscheint es als erweiterte, neugemasterte Fassung und der experimentelle Charakter wird zur Gänze hörbar.

Unterhaltsam und detailliert

Wie es weit abseits der Popmusikkapitale London überhaupt zu dieser ungewöhnlichen künstlerischen Explosion in Nordengland kam, das beschreibt der Filmemacher Jamie Taylor in dem Buch „Studio Electrophonique – The Sheffield Space Age, from The Human League to Pulp“ unterhaltsam und detailliert.

Album und Buch

Clock DVA: „White Souls In Black Suits“ (Mute/Play It Again Sam)

Jamie Taylor: „Studio Electrophonique – The Sheffield Space Age, from The Human League to Pulp.“ Manchester University Press, 2025, 292 S., ca. 15 Euro

Sheffield, die Steel City, war im Zweiten Weltkrieg von deutschen Bombern verheert worden. Nach 1945 gab es viel Platz für neue Gebäude und eine modernistische Stadtplanung. Der sehr linke Stadtrat hatte ein Faible für brutalistische Architektur, Sozialwohnungsviertel ungeheuren Ausmaßes wie Park Hill, Hyde Park und Broomhill entstanden – wo Adi Newton (Clock DVA) und Martyn Ware (Human League, Heaven 17) wohnten. Beton, so weit das Auge reicht. So eine Umgebung macht schon was mit einem.

Im Fall der Sheffielder Durchstarter war es eine Haltung und ein Werteverständnis, das auch von plötzlichem Ruhm nicht unterspült werden konnte. Das flamboyante Auftreten von etwa The Human League und ABC waren Parodien auf blutleeres Dekor.

Erdrückende Rezession

Die ganz England erdrückende Wirtschaftskrise traf die britische Stahlindustrie in den 1970ern besonders hart, Sheffield war karg, grau und unwirtlich. Die spätere Tory-Premierministerin Margaret Thatcher mit ihrer Kahlschlagspolitik stand bereits in den Startlöchern. Wer anders tickte als der große Rest, hatte wenig zu lachen. Positiv an der Misere war, dass das (Über-)Leben in Sheffield erschwinglich war, Busfahrten waren günstig und ein Pint kostete 10 Pence.

Die Rezession ließ die Bewohner der Stadt aber nicht verzagen, sondern schärfte – im Gegenteil – ihr Vertrauen in die Zukunft. Taylor schreibt das den optimistischen Verheißungen zu, die das Raumfahrtzeitalter mit sich brachte.

Mitglieder der genannten Bands waren miteinander bekannt. Sie hingen in denselben Pubs ab, besuchten dieselben Schulen. Waren fasziniert von Musik, Literatur und Filmen. Etwa dem Soundtrack und der Sprache von Stanley Kubricks Horrorfilm „Clockwork Orange“, der auf Basis von Anthony Burgess’ gleichnamigen dystopischen Roman entstand. Der Bandname The Human League ist ihm entlehnt.

Lebensveränderndes Bowie-Album

David Bowies Album „Low“ (1974) war lebensverändernd, auch weil Bowie und seine Begleiter Robert Fripp und Brian Eno durch elektronische Verfremdung einen futuristischen Rocksound kreierten, der ähnlich visionär klang wie ein mit Synthesizern hergestellter.

Die Kids trafen sich im Meatwhistle Arts Shop, einem Theaterworkshop für kunstinteressierte Schü­le­r:In­nen aus der Arbeiterklasse, der vom Labour-Stadtrat finanziert wurde. Für das spezifische Sheffielder Space Age macht Taylor eine Berufsberaterin verantwortlich.

Sie verschaffte Human-League-Mitbegründer Glenn Gregory einen Job, wo er auf den anderen The-Human-League-Mitbegründer Martyn Ware traf, der ihn mit zu Meatwhistle nahm. Ohne diese Frau hätten sich die zukünftigen Mitglieder von The Future, Heaven 17, Clock DVA und The Human League vielleicht nie getroffen.

Anarchie im Theater

Die Organisatoren von Meatwhistle schufen eine anarchische Atmosphäre, in der sich die Jugendlichen ohne Druck ausprobieren konnten. Adi Newton von Clock DVA fühlten sich in dem offenen Kunstlaboratorium vor den kritischen Augen der Außenwelt geschützt. Und auch Martyn Ware, der mit Adi Newton in der Band The Future gespielt hatte, nennt Meatwhistle für seine künstlerische Menschwerdung essenziell.

Eine Oase war auch die Stadtbibliothek, in der Adi Newton sich systematisch Wissen über russischen Konstruktivismus, bildende Kunst, absurdes Theater und experimentelle Literatur anlas. Besuche der in der Bibliothek beheimateten Graves Gallery inspirierten ihn zum Malen eigener Bilder. Außerdem konnte er Platten ausleihen, experimentelle Musik von John Cage und den frühen elektronischen Komponisten. Wie er im Buch erzählt, wurde ihm Ende der 1970er klar, dass man Kunst für sich selbst macht und nicht, um irgendwem zu gefallen. Das hat er bis jetzt durchgezogen, aber dazu gleich.

Bands fanden in verlassenen Lagerhallen Räume, die sie zum Üben nutzten. Aber gut geübt ist noch nicht aufgenommen. Es brauchte einen Toningenieur mit Erfindungsgabe und psychologischem Geschick: Ken Patten, ein 1925 geborener Sheffielder, der in der britischen Luftwaffe gedient hatte und seine technischen Kenntnisse im zivilen Leben für Keyboards und Kassettenaufnahmen weiter entwickelte.

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Clock DVA stehen vor einer Kirche in Sheffield

Clock DVA stehen vor einer Kirche in Sheffield


Günstige Konditionen

Pattens Interesse brachte ihn zu Soundexkursionen analoger Geräusche, die er elektronisch verfremdete. In seiner Doppelhaushälfte richtete er in den 1960ern ein Studio ein, das er mit Basisequipment ausstattete und zu günstigen Konditionen vermietete. Aufnahmen produzierte er mit Ideenreichtum. Patten erzeugte keinen Druck bezüglich Markttauglichkeit. Das brachte junge Mu­si­ke­r:In­nen dazu, bei ihm Demotapes aufzunehmen. Es ist frappierend, wie der Einsatz eines Einzelnen für eine ganze Szene stilbildend war.

Auch Pulp haben ihre erste Aufnahme im Studio Electrophonique gemacht. Jarvis Cocker empfindet das als Schlüsselmoment seiner Karriere. Das Demo hat er dem BBC-Moderator John Peel in die Hände gedrückt, als der an der Sheffielder Uni mit seiner Roadshow zu Gast war. Peel hörte sich das Pulp-Tape auf der Rückfahrt nach London an, die Band wurde zu seiner Radiosession nach London eingeladen und der Rest ist Geschichte.

Auch Mark White von ABC hat „dem großartigen“ Ken Patten zu Ehren sein Londoner Studio „Studio Electrophonique South“ genannt. Adi Newton war mit The Future ebenfalls bei Patten zu Gast. „White Souls in Black Suits“ nahmen Clock DVA im Studio der Sheffielder Band Cabaret Voltaire auf, die beim Unterwasserwarnsignal-Track „Anti-Chance“ auch mitspielen. Das Album ist seiner Entstehungszeit weit voraus.

Und bedenkt man, dass die Musiker 1980 alle um die 20 waren, klingt dieses Werk heute sehr abgeklärt und verstörend erwachsen. Adi Newtons martialische Stimme hat Tausende Goth-Rocker zur Nachahmung gebracht. Die Instrumente werden nicht nur gespielt, sondern, wie in den Linernotes beschrieben, auch bearbeitet. Der düstere, verzerrte Kraut-Freejazz verlangt permanente Aufmerksamkeit.

In den Songtexten widmen sich Clock DVA ausgiebig der Negation, was die Beschreibungen aus „Studio Electrophonique“ erst lebendig werden lässt. Mit Songs wie „Discontentment“ (Unzufriedenheit), „Relentless“ (Unbarmherzig) und „Contradict“ (Widerspruch) haben Clock DVA klaren Verstands die gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit kommentiert.

Das Positivistische des Titels „Consent“ findet seine Entsprechung in einem treibenden Rumpelbeat und frickeligen Gitarren unter nervenzerreibenden Saxofonkaskaden. „White Souls in Black Suits“ ist es unbedingt wert, wiedergehört zu werden. Und weil seine Musik Generationen von Musikern der Genres Gothic, Industrial, EBM und Techno beeinflusst hat, ist sie ohnehin schon in unserer DNA verankert.