Geflohene aus Afghanistan: Das Ende der Barmherzigkeit

Es geschieht vor meinen Augen: Unser Übersetzer-Kollege, der uns mit seinem Wagen abholen will, wird plötzlich von einer Gruppe Taliban umringt. Er steht angstblass auf der Straße, mitten in Kabul. Nur wenige Meter entfernt vom Gebäude der deutschen Botschaft hat ihn ein Checkpoint gestoppt, ihn aus dem Wagen gezwungen. „Was ist los?“ rufe ich ihm zu. Ich habe auf der anderen Straßenseite auf ihn gewartet, dort liegt unser Gästehaus, ich gehe zu ihm rüber. Er zittert. 

Geld haben die Polizisten bei ihm gefunden, mehrere Zehntausend Dollar in lokaler Währung. Sie wollen wissen, woher das Geld stammt. Er hat Schwierigkeiten, es ihnen zu erklären. Sein Geheimnis, von dem auch wir bisher nicht wussten: Er ist Mitbegründer einer Organisation, die Dutzende Mädchenschulen finanziert. Diese Schulen werden im Untergrund betrieben, in den Privaträumen von Lehrerinnen und Eltern, denn der Schulbesuch ab der 7. Klasse ist Mädchen in Afghanistan per Dekret verboten. 

„Ich weiß nicht, wie ich denen das erklären soll“, stammelt er noch, dann drängen mich die Polizisten ab, schicken mich weg, „Go!“ brüllen sie mich an. 

Verhaftet und gefoltert

Das ist das letzte Mal, dass ich ihn sehen sollte. Er wird verhaftet. Ihm wird ein Sack über den Kopf gezogen. Die ersten Verhöre, wird er später erzählen, verlaufen noch zivilisiert. Dann wird er geschlagen, so sehr, dass er nach drei Tagen kaum mehr sprechen kann. Sie hängen ihn an einem Fuß an die Zellendecke, an einen Fleischerhaken, nackt, schlagen ihn weiter. Monatelang bleibt er in Haft, bis er wieder freigelassen wird. Die Gründe sind unklar, so wie vieles unklar ist in den Strafverfahren der Taliban.

Eine Momentaufnahme aus Afghanistan in Zeiten der Taliban, in der nicht alles schlecht ist, aber vieles fürchterlich. Der deutsche Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat jetzt beschlossen, Hunderten von den Taliban bedrohten Afghanen, vor allem Afghaninnen, die versprochene Hilfe zu versagen. Die meisten von ihnen waren nach dem Zusammenbruch des westlich unterstützten Regimes 2021 nach Pakistan geflohen. Viele von ihnen waren dazu ausdrücklich von der Bundesregierung aufgefordert worden. Weil Deutschland in Afghanistan keine Botschaft mehr unterhält, sollten ihre Fälle dort behandelt werden. Es wurden Dutzende Beamte aus Deutschland nach Pakistan beordert, um die Geflohenen persönlich zu befragen und so mögliche Terroristen herauszusieben. Ein aufwendiges, teures Verfahren, das über die Jahre immer komplexer wurde.   

Fast vier Jahre lang gab man den vor den Taliban Geflohenen Hoffnung. Vier Jahre lang prüfte man: die individuellen Verfolgungsgründe, ihre Familiengeschichte, die mögliche Gefahr, die für Deutschland von diesen Leuten ausgehen könnte. Sie wurden geprüft und geprüft, und das immer wieder. Sie wurden durchleuchtet wie vermutlich in der Geschichte der Bundesrepublik keine Einwanderungswilligen zuvor. Jetzt also der Beschluss, das Programm abrupt zu beenden. Ein Eilantrag der Grünen, den in Pakistan Gestrandeten noch rasch allesamt Visa zu geben, wurde im Bundestag abgelehnt, auch mit Stimmen der SPD. Eine Zeitenwende der anderen Art, könnte man meinen. Bei der CDU schrumpft das C, bei der SPD das S. Das Ende der Barmherzigkeit. Mitleid ist nicht mehr zeitgemäß.