Kinder in der Weihnachtszeit: Voll auf Zucker – Gesellschaft

Wäre ich nicht erziehungsberechtigt, würde ich dafür plädieren, Lebkuchen zum Grundnahrungsmittel zu erklären. Ich würde ihre Vorteile gegenüber antientzündlicher Mittelmeerküche preisen, wenige sind es nicht. Ich würde in biblischen Ausmaßen beschreiben, wie allein das Knacken der Schokolade psychologisch so richtig reinkickt, wie der Zucker einen durch einen Dezembertag voller Deadlines und Sehen-wir-uns-vor-Weihnachten-noch-einmal-Nachrichten trägt.

Ich bin jedoch erziehungsberechtigt, und so werde ich meinem Kind noch sehr viele Jahre verschweigen müssen, dass es Zeiten gab, in denen ich mich ausschließlich von Lebkuchen und Zimtsternen und alten, weißen Schokoladenweihnachtsmännern ernährt habe. Ich werde mich beherrschen, wenn sich Ende August, Anfang September die ersten Lebkuchen im Supermarkt materialisieren und nicht panisch nach meiner Lieblingsmarke suchen, sondern so tun, als befänden wir uns in einem Crystal-Meth-Labor in New Mexico. Ich werde ein gutes Vorbild sein. Es wird nur rein gar nichts bringen.

Seit Wochen gibt es überall Süßes, Süßes, Süßes, ich warte nur darauf, dass mein Zahnarzt mir eine aufhellende Mundspülung aus Zuckerkristallen für Selbstzahler anbietet. Im November geht das los, wenn fremde Herren in der Straßenbahn Gummibärchen und Twix reichen, weil das mitgeführte Kind so wahnsinnig süß ist. Worauf das wahnsinnig süße Kind sich in einen Süchtigen mit kurzer Zündschnur verwandelt und wir tagelang nur noch darüber reden, wann die Gummibärchen und das Twix gegessen werden dürfen. Auf den Weihnachtsfeiern von Kita, Büro und Nachbarn geht das weiter, noch bevor der Nikolaus, Handlanger des Überkonsums, überhaupt da war.

Wenn ich meine vierjährige Tochter morgens frage, was sie in der Nacht geträumt hat, ruft sie: „von Lollis!“ Gestern schilderte sie mir, wie sie auf dem Weihnachtsmarkt in meiner Abwesenheit eine „sehr leckere Rolle“ gegessen habe. Sie sprach mit der Emphase einer Besessenen, die nie wieder vor 22.30 Uhr schlafen gehen wird. Noch konnte ich nicht nachrecherchieren, um was für eine toxische Rolle es sich handelte, Crêpe, Waffel, Churros, Baumstriezel, aber ich bin mir sicher, dass ein fürsorglicher Mensch ihr extra viel Industriezucker drauf gemacht hat. Danke an dieser Stelle, wir hatten dann einen echt chilligen Abend.

Nein, nein, so ökologisch verbohrt und weihnachtslethargisch bin ich gar nicht, wie das jetzt klingt. Mit jedem Mutterjahr lerne ich dazu und weiß, dass ich nichts weiß: Kinder können nicht früh genug lernen, dass Ende November der Zuckerbann aufgehoben wird und wirklich niemand mehr was von Dopamin-Detox oder gesunder Ernährung wissen will. Ja, vielleicht ist es an der Zeit, sein wahres Ich zu zeigen – was haben gute Vorbilder jemals schon ausrichten können? Heißt: Es wird Bratapfelfeste geben, hochkalorische Gelage, hyperaktive Eltern, die selbst ihre hyperhyperaktiven Kinder einschüchtern. Und Anfang Januar einen Entzug im engsten Familienkreis. Wenn meine Tochter einmal groß ist, wird sie das verstehen.

In dieser Kolumne schreiben Patrick Bauer und Friederike Zoe Grasshoff im Wechsel über ihren Alltag als Eltern. Alle bisher erschienenen Folgen finden Sie hier.