Es ist eine hohe und enge Gasse, die zu einem der prächtigsten Paläste am Canal Grande im San-Polo-Viertel in Venedig führt. Im Halbdunkel läuft man an hohen Pforten und langen Klingelschildern vorbei, bis man vor dem Eingang des Palazzo Pisani Moretta steht. Der gotische Patrizierpalast, im 18. Jahrhundert aufwendig nach der neuesten Mode umgestaltet, gehört seit Ende Juli dem belgischen Designer Dries Van Noten. Nach dem Rückzug aus der Modebranche hat er sich zusammen mit seinem Partner Patrick Vangheluwe in der Lagunenstadt niedergelassen, um den Palast, der berühmt ist für schwindelerregende Deckenfresken von Jacopo Guarana und Giambattista Tiepolo, zu renovieren – mit seiner neu gegründeten Stiftung für Kunsthandwerk.
Im Portego, dem hallenartigen Prunksaal des Piano nobile, des prachtvollen Hauptgeschosses, stehen ein schlichter runder Tisch und vier Stühle. Dries Van Noten nimmt vor der riesigen Fensterfront Platz, sodass sich seine schmale Silhouette in die Kulisse einfügt: Vor dem hellgrau-blauen Himmel reihen sich strahlend weiße Marmorfassaden an karminrot und zitronengelb verputzte Häuser mit flaschengrünen Fensterläden. Von hier aus schaut man auf den Canal Grande, der im Herbst blaugrün schimmert. Diese Farbpalette kontrastiert der Modemacher mit unaufgeregter Eleganz: legerer Stoffhose, dunkelblauem Wollpullover. Während sein Custode, der Hausmeister, mit einer Leiter von Wandleuchter zu Wandleuchter geht, Kerzen auswechselt und ab und zu hämmert, antwortet Dries Van Noten konzentriert.
Herr Van Noten, haben Sie kommunalpolitische Ambitionen?
Nein, in den kommenden Monaten werde ich hier schon genug zu tun haben.
Der venezianische Tourismusdezernent hieß Sie willkommen in der „Squadra per Venezia“, der „venezianischen Mannschaft“. Werden sie ein Stammspieler?
Seit Neuem habe ich einen venezianischen Wohnsitz. Und alles, was ich in meinem Leben mache, mache ich intensiv. Als mein Partner Patrick und ich als Designer zurücktraten, suchten wir nach einem neuen Projekt. Das Modehandwerk hat uns so viel gegeben, dass wir gern etwas zurückgeben möchten – mit der Schönheit der Handwerkskunst.

Wie kamen Sie nach Venedig?
Eine belgische Freundin, die bei uns in Antwerpen zu Gast war, sagte: „Ihr könnt ein paar Wochen in meiner Wohnung in Venedig wohnen!“ So haben wir Venedig für uns entdeckt. Es war plötzlich nicht mehr nur das Bild einer wunderschönen Stadt, in der man ein wunderschönes Wochenende verbringen kann, was wir immer gern gemacht haben. Sondern es ist ein unglaublicher Ort, um hier zu leben. Alles funktioniert wie in einer echten Stadt, aber gleichzeitig ist alles noch voller Traditionen. Man läuft zum Markt, hat gute Lebensmittelgeschäfte, gute Metzger, gute Bäcker und pflegt einen Lebensstil, der für mich für die Zukunft richtungsweisend ist: calm down, slow down. Venedig ist der perfekte Ort dafür, das Tempo rauszunehmen. Hier kann man sich darauf besinnen, was im Leben wirklich zählt. Man geht zu Fuß oder nimmt das Vaporetto, den Wasserbus, dabei trifft man Menschen, man unterhält sich, und die Leute sind sehr großzügig mit ihrer Freundschaft. Et voilà!
Gleichzeitig ist Venedig international.
Ja. Aber was mir besonders gefällt, sind die vielen jungen Menschen. Es gibt sehr gute Schulen, das zieht die Leute an. Häufig ziehen junge Menschen, die zum Studium hergekommen sind, wieder weg, weil die Stadt zu teuer ist. Aber nach ein paar Jahren kommen sie zurück. Dann sind sie beruflich schon etwas weiter, aber man spürt den kreativen Vibe in Handwerkskunst und Design.
Oft dominiert in der Presse ein negatives Venedig-Bild, das Bild einer vom Overtourism geplagten, sterbenden Stadt.
Das Problem mit Airbnb ist ein weltweites Phänomen. Erfreulicherweise haben viele Städte schon angefangen, es zu reduzieren. Und die Verknappung des Wohnungsmarkts steigert die Lebenshaltungskosten. Andererseits kann man in Venedig auch Geld sparen, zum Beispiel indem man zu Fuß geht oder die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt. Die Zusatzleistungen der Stadt dafür sind enorm. Man kann von hier aus auch schnell andere Ziele erreichen. Es gibt einen sehr guten Flughafen, man ist mit dem Bus vom Piazzale Roma oder mit dem Wasserbus in einer Viertelstunde dort – ich lebe 20 Kilometer entfernt vom Flughafen Brüssel und muss zwei Stunden vorher losfahren, weil man nie weiß, ob man eine halbe Stunde braucht oder viel länger. Man kommt in viele Städte mit dem Zug, die Verbindungen nach Mailand und Florenz, wohin wir manchmal fahren, sind sehr gut. Und wir haben ein erstklassiges kulturelles Angebot mit hochkarätigen Ausstellungen.
Sie hätten für die Stiftung auch Mailand wählen können, die Stadt der Mode.
Natürlich wird die Modebranche immer in Paris und Mailand bleiben. Und das ist gut so, allein aus Machbarkeits- und Nachhaltigkeitsgründen. Schon lange setze ich mich für die Entschleunigung in der Mode ein. Es kann nicht immer mehr große Konzerne geben, es muss auch für kleine Marken weitergehen. Denken wir zum Beispiel an den Berufszweig der Maßschneider, der angesichts der heutigen Einstellung zur Mode vom Aussterben bedroht ist. Ich spreche oft mit jungen Designern an der Modeschule in Antwerpen – und ich glaube, es wird Zeit, dass die Maßschneider zurückkommen.

Werden Sie das mit Ihrer Stiftung tun?
Nein, wir wollen die Bedeutung des Kunsthandwerks allgemein zeigen – von der Mode bis zur Möbelherstellung, von der Tischwäsche zur Keramik. Auch das Kochen gehört dazu. Einige Menschen finden ihren künstlerischen Ausdruck im Formen von Ton, andere mit der Zubereitung eines Gerichts, wieder andere mit ihrer Stimme, mit Gedichten oder Musikstücken. All diese Künste möchten wir vereinen. Wir wollen die traditionelle Trennung zwischen den Disziplinen auflösen. Venedig ist für dieses Projekt die richtige Stadt, hier kann man sich gut auf das konzentrieren, was einen umtreibt. Man verliert hier keine Zeit mit unnützen Dingen.
Sie haben gesagt, dass Sie und Ihr Partner für die Stiftung einen Ort finden wollten, der „nicht zu groß, nicht zu kompliziert und nicht zu dekoriert“ sein sollte. Jetzt sitzen wir hier in dieser hochkomplexen Rokoko-Ausstattung mit mythologischen Deckenfresken, illusionistischer Architektur und Pastell-Stuckaturen . . .
Wir dachten an einen leeren Palast, in dem man ganz verschiedene Projekte umsetzen kann. Aber dann wurden wir davon abgehalten, weil die Denkmalschutzbehörde massive Umbauten wie das Herausnehmen einer Wand verhinderte. Wir dachten, dass Künstler „white cubes“ brauchen, Orte mit weißen Wänden. Und wir dachten, der Palazzo Pisani Moretta sei viel zu groß, viel zu teuer, viel zu dekoriert. Dann trafen wir Maurizio Sammartini, dem der Palast ab 1968 gehörte. Er erklärte uns, dass hier beim Umbau im Rokoko die Idee einer jungen Frau umgesetzt worden war. Und diese klare Vision, mit der in den 1730er-Jahren der gotische Innenraum umgebaut wurde, ist immer noch da! Es ist nicht wie in anderen venezianischen Palästen, in denen die Epochen von Renaissance über Barock bis zu Rokoko Schicht um Schicht übereinanderliegen. Hier ist die stilistische Transformation so klar umrissen, dass sie für uns zu einer Art „Neutrum“ geworden ist. All unsere Besucher, Künstler und Designer, mit denen wir zusammenarbeiten, sehen diese Innenausstattung auch so. Es wird bestimmt kompliziert. Aber Maurizio hat immer gesagt: „Der Palazzo wird viel von dir fordern, aber er wird dir noch mehr zurückgeben.“ Das stimmt, es fühlt sich so an. Und es ist ein ziemliches Vermächtnis.
Ist es die extreme Qualität dieses Palastes, die Sie hierhergeführt hat?
Die Perfektion in ihrer Kohärenz ist atemraubend. Auch die Tatsache, dass er sich in seiner Einzigartigkeit so erhalten hat.
Der Palazzo Pisani Moretta ist einer der wenigen Paläste in der Stadt, die noch Glasleuchter mit Wachskerzen haben; andere sind längst mit LED-Licht ausgestattet. Wenn man diese Räume abends im Kerzenschein betritt, erlebt man die originäre Schönheit, für die diese Innenausstattung geschaffen wurde. Waren Sie je anlässlich eines Maskenballs hier?
Ja, mehr als einmal. Aber ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass ich hier einmal leben würde! Im Moment wohnen mein Partner und ich noch in einer Wohnung in nächster Nähe. Denn wir renovieren nun mindestens eineinhalb Jahre lang. Wir haben den Architekten Alberto Torsello damit beauftragt, den Palast behutsam aufzurüsten. Einbauten wie Heiz- und Klimaanlage, Brandschutz, barrierefreier Zugang und größerer Aufzug sollen sehr unauffällig sein. Und wir müssen so geschickt mit Licht arbeiten, dass es nicht auffällt. Wir wollen nicht, dass moderne Statements sichtbar werden.
Anlässlich der Regata Storica, des historischen Bootsrennens Anfang September, haben Sie auf dem Balkon zum Canal Grande an dem Volksfest teilgenommen.
Ja, wir haben gleich begonnen, den Palast zu nutzen. Mein Partner und ich haben gern Gäste, auch in Antwerpen. Zur Regata war es ein kleiner Kreis, denn man kann diesen riesigen Palast auch wunderbar mit kleinen Gruppen nutzen. Es gibt auch sehr intime Räumlichkeiten hier. Zu diesem venezianischen Fest haben wir übrigens die großen historischen Standarten aus rotem Samt an den Balkonen ausgehängt. Es gab ein großes Echo! Viele haben sich darüber gefreut, dass wir diese Tradition wiederbelebt haben.
Als Modedesigner sind Sie berühmt geworden für „avantgardistische Opulenz“. Wie viel davon werden wir hier im Palazzo Pisani Moretta erleben?
Ich habe ja meinen Stil und meinen Geschmack. Und dass ich als Modedesigner aufgehört habe, bedeutet nicht, dass ich alles aufgebe, für das ich stehe. Natürlich werde ich jetzt etwas vollkommen anderes tun, aber ich liebe immer noch üppige Ausstattungen. Aber der Opulenz geben wir jetzt eine zeitgenössische Note. Denn ich möchte nicht in der Vergangenheit leben. Ich liebe die Vergangenheit, aber ich möchte in die Zukunft schauen.
Es heißt, Venedig sei die älteste Stadt der Zukunft . . .
Ich nenne es meinen Spielplatz. Venedig erstaunt mich immer wieder aufs Neue. Das Licht, der Mond, der Regen, der Nebel, alles ist einfach schön. Wenn man abends ausgeht und allein durch die Gassen nach Hause läuft, dann ist man umgeben von Kanälen, dem Straßenlicht . . . Perfektion! Ich war wirklich in Sorge, denn ich gewöhne mich sehr schnell an schöne Dinge. Außerdem wohne ich in Antwerpen in einem Haus mit einem großen Garten, wo man den ständigen Wechsel der Jahreszeiten erlebt. Ich dachte, ich würde das vermissen. Aber Venedig hat so viel mehr zu bieten. Man sieht tatsächlich weniger die Natur, aber dieses Licht . . .
. . . eine Stadt als Gesamtkunstwerk.
Ja, und zwar ein funktionierendes! Kein Disneyland, sondern etwas Modernes und Funktionierendes.
