Kartenspiel „Anno Domini“: Ein Dampfschiff und viele Gespensterseher


„Manchmal“, sagte unsere Freundin, die Buchhändlerin, als ich in ihrem Laden ein bestelltes Geschichtsbuch für unseren Sohn abholen wollte, „komme ich ganz durcheinander, wenn ich mich frage, was ich all die Jahre eigentlich gemacht habe.“

„Geht mir auch so“, sagte ich, „vor allem, wenn es die letzten paar Jahre betrifft. Aber ich weiß noch ziemlich genau, wie es in der Abizeit war.“

„Ich auch“, sagte die Buchhändlerin, „manchmal wünschte ich mir, es wäre andersrum. Gut erinnern kann ich mich natürlich an unsere Weltreise vor drei Jahren. Obwohl mir auch da manchmal Bilder einfallen, von denen ich nicht genau weiß, wohin sie gehören. Ich muss mir dann immer zurechtlegen, in welcher Reihenfolge sie auf unserer Reise stehen, dann geht es meistens.“

„Kann Ullrich nicht helfen? Er war doch dabei.“

„Er hat da manchmal seine eigene Reihenfolge“, sagte die Buchhändlerin.

Ein gutes Weinjahr bleibt ein gutes Weinjahr

Am Wochenende kamen sie dann bei uns vorbei. Ullrich brachte eine Flasche Wein mit, die er im Keller seines verstorbenen Onkels gefunden hatte, ein Riesling von 1984. Das sei ein exzellentes Weinjahr gewesen, sagte er. Als er die Flasche öffnete, war die Flüssigkeit im Glas so ölig, dass Ullrich der einzige war, der davon probierte. Es sei schade, dass sein Onkel den Wein nicht richtig gelagert hätte, sagte er dann, und mein nordhessischer Cousin holte das Kartenspiel, das er für den Abend gekauft hatte, als Dank dafür, dass wir ihn nach dem Streit mit seiner Freundin aufgenommen hatten. Es ist ihre Wohnung.

„Anno Domini“, las unser Sohn auf der kleinen Pappschachtel, „das kenne ich“. Mein Cousin sagte, dass sein Spiel eine von mehreren „Anno Domini“-Spezialeditionen sei, nämlich die mit den Erfindungen.

Unser Sohn erklärte, dass es bei dem Spiel darum gehe, die Karten in die richtige Reihenfolge zu bringen. Jeder bekomme eine Anzahl Karten, auf denen ein historisches Ereignis stehe. Reihum müsse man dann eine dieser Karten in einen ungefähren Zeitstrahl einfügen, von dem man aber nur die Ereignisse kennt, nicht die Jahreszahlen auf der Rückseite.

Brutkasten mit Warmwasserheizung

„Wenn’s weiter nichts ist“, sagte Ullrich, und dass sich das meiste ja wohl von selbst erkläre.

Die Buchhändlerin teilte die Karten aus und nahm noch eine vom Stapel, die sie in die Mitte legte. „Der Brutkasten mit Warmwasserheizung“, stand darauf. Ullrich legte die Karte mit der Erfindung der Kartoffelchips davor in den Zeitstrahl und erklärte unserem Sohn, dass die Menschheit immer vom Einfachen zum Hochkomplexen fortgeschritten sei.

Mein nordhessischer Cousin zweifelte diese Reihenfolge an. Er riskierte damit, vier Karten ziehen zu müssen, während Ullrich im Falle eines Fehlers nur zwei bekäme. Es stellte sich heraus, dass der wasserbeheizte Brutkasten eine Erfindung aus dem Jahr 1780 war, während die Kartoffelchips erst 1853 in Saratoga Springs entstanden, als ein Koch das ewige Genörgel über zu dicke Pommes Frites nicht mehr hören konnte. Zwei Karten für Ullrich.

Botschaften vom Mars

Wir lernten, dass die Hethiter die Babylonier mit ihren Streitwagen überrollten, bevor in China die ersten Rauchzeichensignale gesendet wurden, dass der Physiker Marconi 1901 meinte, Botschaften von Marsbewohnern empfangen zu haben, und dass in Newcastle schon 1608 die ersten Schienen in Bergwerken verlegt wurden.

Mein Cousin zweifelte mehrfach Ullrichs Karten an und hatte damit recht.

„Ist auch viel einfacher als selbst mal was zu erfinden“, maulte Ullrich. „Nordhessen ist ja nicht unbedingt als deutsches Innovationszentrum verschrien, oder?“

Das Dampfboot, ein Nordhesse

Mein Cousin erzählte von Denis Papin, einem Pionier der Anästhesie und der Dampfkraft in den Diensten des hessischen Landgrafen in Kassel. Das erste Dampfboot sei dann auch auf der Fulda gefahren. Nur hätte es die abergläubische Bevölkerung zerstört, weil sie darin ein Werkzeug des Teufels sah.

„Ich hab’s gewusst“, sagte Ullrich.

„Allerdings erst, als Papin Hessen schon verlassen hatte und in Hannoversch Münden ankam“, sagte mein Cousin.

Ullrich nahm einen Schluck von dem öligen Wein und schluckte ihn gedankenverloren herunter.

Und ich brachte unseren Sohn ins Bett.

„Anno Domini. Erfindungen“ ist bei Abacusspiele erschienen: www.abacusspiele.de

Spielekolumne „Einer wird gewinnen“

Einmal im Monat kommen die Freunde vorbei, um Gesellschaftsspiele zu testen: Brettspiele, Kartenspiele und auch solche, für die man nur Stifte, Zettel oder Würfel braucht. Wie diese Abende ablaufen, verrät unsere Kolumne „Einer wird gewinnen“ jeweils am zweiten Montag des Monats.