Militärsoziologe Yagil Levy: „Kaum Empathie mit Palästinensern“

Professor Levy, der 7. Oktober 2023 liegt mehr als zwei Jahre zurück, fast alle Entführten sind zurückgekehrt, der Krieg im Gazastreifen ist – zumindest vorerst – vorbei. Wie nehmen Sie die Stimmung in Israel wahr?

Wir haben noch nicht angefangen, wirklich darüber nachzudenken, was hier in den letzten zwei Jahren vor sich gegangen ist. Zum einen glauben die meisten nicht, dass der Krieg vorbei ist. Denn wir haben eine Regierung, die nach einer guten Gelegenheit sucht, militärische Auseinandersetzungen wieder aufzunehmen – in Libanon, in Iran, in Syrien und natürlich im Gazastreifen. Daher herrscht nicht die richtige Atmosphäre für eine Selbstbefragung. Wir stellen nicht einmal einfache Fragen wie: War es das wert? All die Menschen, die auf beiden Seiten gestorben sind? Wie ist unsere Zukunft als Land, dem viele auf der Welt einen Völkermord vorwerfen? Nicht einmal die einfachste Frage wird gestellt: Haben wir diesen Krieg gewonnen?

Was beschäftigt die Menschen stattdessen?

Die Lage der Wirtschaft, der Zustand der Regierung, der Skandal um die Militärstaatsanwältin, der Streit über den Geheimdienstchef, Netanjahus Prozess. Wir haben alltägliche Probleme, aber sie halten uns davon ab, über morgen nachzudenken, geschweige denn über gestern. Was fehlt, ist eine Debatte darüber, welche Vision wir haben, wie wir die künftigen Beziehungen zwischen Israel und Gaza sehen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



In einem Artikel schreiben Sie, dass Israels Verhältnis zu den Menschen im Gazastreifen seit Jahren von einer „Entmenschlichung durch Ignorieren“ geprägt sei. Sehen Sie das immer noch so?

Ehrlich gesagt, sehne ich mich nach der Zeit zurück, in der es so war. Denn dieses Ignorieren stellte eine passive Dehumanisierung dar. Man hasste die Menschen nicht wirklich, man ignorierte sie. Der deutlichste Ausdruck war das Bestreben Israels, seine Land-, See- und Luftgrenzen zu befestigen, um Gaza „sich selbst verwalten“ zu lassen und gleichzeitig die Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung zu ignorieren. Aus diesem Grund konnten sich die Israelis auch nicht vorstellen, dass es zum 7. Oktober 2023 kommen würde. Danach hat sich die passive in eine aktive Dehumanisierung verwandelt. Und ich glaube nicht, dass wir zurück in die Zeit davor gelangen werden.

Was meinen Sie mit aktiver Dehumanisierung?

Während die passive Entmenschlichung durch Gleichgültigkeit und Vernachlässigung gekennzeichnet war, werden bei aktiver Entmenschlichung die Bewohner Gazas kollektiv als nichtmenschliche Wesen gesehen – als Monster und Teufel.

Aber gibt es nicht auch Empathie in israelischen Medien für die Menschen im Gazastreifen?

Ich lese Umfragen, und darin kann ich kaum Empathie erkennen. In einer der letzten Umfragen vor dem Waffenstillstand sagten nur zwei Prozent der jüdischen Befragten, dass Israel wegen des Leidens der Palästinenser in einen Waffenstillstand eintreten sollte. Der Hauptgrund, der genannt wurde, waren die Geiseln. Die meisten Menschen glauben auch bis heute, dass das israelische Militär moralisch gehandelt hat.

Ist das nicht normal für diese Art von Konflikt, insbesondere nach einem so schrecklichen Massaker wie dem der Hamas?
Yagil Levy ist Professor an der Open University in Israel und leitet dort das Institut für die Erforschung zivil-militärischer Beziehungen.
Yagil Levy ist Professor an der Open University in Israel und leitet dort das Institut für die Erforschung zivil-militärischer Beziehungen.Jonas Opperskalski

Es ist nicht normal gemäß dem, was wir für jüdische Werte halten. Und es kommt noch etwas dazu. Die Amerikaner haben sowohl im Irak als auch in Afghanistan gekämpft. Irgendwann haben sie erkannt, dass ein aggressives Vorgehen mit der Waffe gegen die lokale Bevölkerung kontraproduktiv ist. Es steht dem Ziel entgegen, stabile politische Einheiten aufzubauen, die die globale Sicherheit verbessern und den Rückzug der Streitkräfte ermöglichen. In Israel haben die Generäle, übrigens schon lange vor dem 7. Oktober, den Schutz der eigenen Truppen als den höchsten Wert angesehen. Wenn das bedeutete, einen Teil des Risikos von den Soldaten auf die Zivilbevölkerung zu verlagern, war das in Ordnung. Mit dem 7. Oktober wurde diese Vorgehensweise noch extremer.

Der Schutz der Zivilisten im Gazastreifen wurde noch unwichtiger?

Wenn man über die Pflicht sprach, die Immunität von Zivilisten zu respektieren, wurde das fast als Verbrechen angesehen. Leute sagten, wer so etwas fordere, beschütze Leute, die eigentlich unmenschlich sind. Das ist eine Art von aktiver Dehumanisierung. Ein wichtiger Faktor war auch das Bild der Palästinenser im Gazastreifen als Amalekiter.

Israelische Siedler im Juli bei einem Marsch zur Grenze mit Gaza
Israelische Siedler im Juli bei einem Marsch zur Grenze mit Gazadpa

Das ist in der Bibel ein Volk, das die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten angriff. Gott erteilte daraufhin den Auftrag, „die Erinnerung an Amalek auszulöschen“. Benjamin Netanjahu zitierte den Vers in einer seiner ersten Ansprachen nach dem 7. Oktober.

In Anlehnung an diese Geschichte forderten religiöse, aber auch säkulare Führer die Soldaten auf, keine Gnade zu zeigen. Die Behauptung, dass es „keine Unschuldigen in Gaza“ gebe, ermutigte die Soldaten, und das Symbol der Amalekiter verwandelte die Vorstellung, die Menschen dort auszulöschen, von etwas Zulässigem in eine vermeintliche Pflicht. In der Praxis war diese Gleichsetzung eine Legitimation dafür, die Einsatzregeln sehr weit zu fassen. Das konnte man schon am 8. Oktober sehen, als die Luftangriffe begannen. So kam es dazu, dass Israel ein hohes Ausmaß an Kollateralschäden in Kauf nahm. 20 Zivilisten für einen Hamas-Aktivisten. Das ging nicht von den Bodentruppen aus. Sondern von den kühl agierenden Piloten und von den Leuten in den Operationsräumen.

Also zum Teil von denselben Leuten, die davor noch gegen die Justizreform der Regierung protestiert hatten.

Wenn man die Analysen des Soziologen Zygmunt Bauman anwendet, dann kann man sehen, wie sich Menschen von der Mission, vom Ziel, von den Opfern distanzieren. Wie die Mission in eine Kette von Operationen aufgespalten wird, bei der niemand mehr für das Gesamtbild verantwortlich ist, sondern jeder für seinen sehr engen, technischen, operativen Teil. Wenn wir Aussagen von Piloten hören, dann hören wir ein Echo dessen, was Bauman beschrieben hat. Es war keine Barbarei. Es war eine sehr kalt ausgeführte Serie von Missionen, die den größten menschlichen Tribut gefordert hat in Gaza.

Lassen Sie uns ins Westjordanland blicken. Die Gewalt von Siedlern dort eskaliert. Wie steht die Armee dazu?

Die israelische Armee besteht mittlerweile eigentlich aus zwei Teilen. Der eine ist die offizielle Armee, die IDF, die etwa in Iran oder Libanon gekämpft hat. Und der andere ist, was ich „Polizeiarmee“ nenne. Sie ist seit der Zweiten Intifada im Westjordanland entstanden und besteht aus drei Komponenten: Siedlermilizen, die von der Armee bewaffnet, ausgebildet und finanziert werden, Grenzpolizei und reguläre Einheiten. Die Grenzen zwischen Soldaten und Siedlern verschwimmen dabei seit Jahren immer stärker. Sie leben zusammen, essen zusammen, manchmal feiern sie zusammen. Es gibt familiäre Bindungen. Aus diesem Grund wurde das zunehmend gewalttätige Verhalten der Siedler von den Soldaten ignoriert, toleriert, geschützt oder sogar unterstützt. Mit der gegenwärtigen Regierung, die Ende 2022 ins Amt kam, ist diese Situation eskaliert.

Wie hat sich der 7. Oktober auf diese Entwicklung ausgewirkt?

Zunächst einmal wurde den lokalen Milizen mehr Gewicht beigemessen, was die Bindungen verstärkt hat. Manchmal wissen die Einheimischen nicht, wer vor ihnen steht: ein Siedler oder ein Soldat? Manche sind am Morgen Siedler und am Abend Soldaten. Zweitens mischen sich immer mehr rechte Politiker in militärische Angelegenheiten ein. Als der letzte Generalstabschef Herzl Halevi Soldaten disziplinarisch bestrafte, weil sie in einer Moschee in Dschenin gebetet und ihre jüdischen Gebete über die Lautsprecheranlage der Moschee verbreitet hatten, da wurde er vom Minister Itamar Ben-Gvir dafür kritisiert. Drittens strebt das israelische Militär verstärkt nach „permanenter Sicherheit“. Es geht darum, unmittelbare Bedrohungen abzuwenden und zukünftige Bedrohungen zu verhindern. Das ist es, was Israel in Gaza geleitet hat – und was zunehmend auch die Vorgehensweise im Westjordanland prägt.

Israelische Siedler werfen in Turmusaya im Westjordanland Steine auf palästinensische Dorfbewohner.
Israelische Siedler werfen in Turmusaya im Westjordanland Steine auf palästinensische Dorfbewohner.dpa

Was bedeutet das in der Praxis?

Mehr militärische Handlungsfreiheit, weniger Sorge um die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Streben nach absoluter Sicherheit ohne jegliche Toleranz. Das nimmt teilweise die Form kollektiver Bestrafungen an. Als etwa im Mai eine Siedlerin auf einer Straße im Westjordanland erschossen wurde, forderte der Vorsitzende des Regionalrats, das ganze Dorf plattzumachen, aus dem der Täter kam. Das ist etwas Neues in der politischen Kultur Israels. Eine letzte Sache kommt hinzu: Die Siedler waren sehr alarmiert, als Joe Biden davon sprach, die Palästinensische Autonomiebehörde zu reformieren und zu stärken. Sie fürchteten ein Wiederaufleben der Zweistaatenlösung und verstanden, dass sie handeln müssen. All das hat dazu geführt, dass es mehr Gewalt gegen Palästinenser gibt – während die israelische Führung im Westjordanland immer weniger Macht und Motivation hat, diese einzudämmen und zu unterbinden.

Zuletzt hörte man mehr Kritik der Armeeführung an der Siedlergewalt.

Ich denke, man muss zwischen funktionaler und dysfunktionaler Gewalt unterscheiden. Erstere wird vom Staat seit langer Zeit gefördert. Die Siedler übernehmen Gebiete im Westjordanland mit Methoden, die Israel offiziell nicht anwenden kann; sie werden dabei von der Armee unterstützt. Diese Gewalt kann aber in dysfunktionale Gewalt umschlagen, die Chaos zu verursachen droht. Die eine dritte Intifada auslösen könnte. Die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf sich zieht. Das Militär hat das Gefühl, die Kontrolle darüber verloren zu haben. Daher gibt es jetzt kritische Stellungnahmen.

Wird die Armee in absehbarer Zeit von Siedlern übernommen werden?

Die „Polizeiarmee“ wird schon jetzt stärker von Siedlern als von der militärischen Führung kontrolliert. Und auch die militärische Führung selbst verändert sich: Dort gibt es jetzt auch Kommandeure, die aus dem nationalreligiösen Erziehungssystem kommen, also aus der Siedlerbewegung. Die Macht innerhalb der Armee verschiebt sich.