taz: Frau Yaqubee, was ist Ihre früheste Erinnerung an Musik?
Elena Yaqubee: Ich komme aus einer sehr ländlichen Gegend Afghanistans. Dort lebt man ein einfaches, traditionelles Leben. Man macht alles selbst. Wir hatten Schafe und Kühe. Ich war dafür verantwortlich, sie zu versorgen, und musste jeden Abend nach draußen, um die Kühe weiden zu lassen. Das war für mich die Zeit, in der ich singen konnte, weil niemand in meiner Nähe war, nur die Kühe hörten mir vielleicht zu. Als Kind habe ich sehr viel alleine gesungen.
taz: In Afghanistan ist es verboten, Musik zu spielen oder zu machen. Was bedeutet es, ein Leben ohne Musik zu führen?
Yaqubee: Stellen Sie sich ein Land ohne Musik, Kunst und Theater vor! Es ist farblos. Musik ist etwas Magisches, und wenn man keine Musik hat, ist alles sehr traurig und irgendwie tot. In meinem Land darf niemand Musik machen. Nachdem die Taliban Afghanistan übernommen hatten, verbrannten sie alle traditionellen Instrumente der afghanischen Musik. Die afghanische Musik ist in Gefahr, afghanische Musiker*innen haben das Land verlassen. Manchmal bin ich irgendwie neidisch, dass Kinder in Europa mit Musik aufwachsen. Musik lässt einen seine Emotionen und Gedanken ausdrücken. Kinder hier haben Musik in der Schule. Sie spielen. Sie lernen. Ich habe das alles nicht erlebt.
taz: Wann haben Sie Ihren ersten Song geschrieben?
Yaqubee: 2015 bin ich aus Afghanistan in den Iran geflohen. Dort lernte ich eine NGO kennen, die Musikprojekte anbot. Ich hatte vorher noch nie ein Instrument gespielt. Das war wirklich weit entfernt von meinem Horizont, von dem, was ich mir vorstellen konnte. Vielleicht war die Musik schon immer in mir, aber ich hatte keine Gelegenheit, diese Saat in mir zu wässern. Der Iran ist aber ein heftiges Umfeld für illegale Geflüchtete.
taz: Deshalb sind Sie weiter geflohen.
Yaqubee: Ja, weiter in die Türkei und von da in einem Schlauchboot nach Griechenland. Im August 2019 kam ich nach Moria. Als ich dort ankam, sagten die anderen zu mir: Willkommen in der Hölle von Moria.
taz: Das klingt schrecklich.
Yaqubee: Ja. Ein Leben auf der Flucht bedeutet, von einer Hölle in die nächste zu geraten. Ich blieb ein Jahr lang in diesem Lager. Dann habe ich endlich Asyl in Griechenland bekommen. 2021 habe ich meinen ersten Song geschrieben, in dem ich diese Flucht aufarbeite. Immer wenn mir oder meinem Land etwas passiert ist, schreibe ich einen Song drüber.
taz: Zusammen mit dem Musiker Joel Tunno haben Sie das Projekt 34 afghan windows gegründet. Das Projekt wurde nach den 34 Provinzen Afghanistans benannt.
Yaqubee: Ja. Im August 2021 haben die US-amerikanischen Truppen Afghanistan verlassen und es einfach an die Taliban übergeben. Ich konnte es nicht glauben. Früher haben die Taliban Frauen auf der Straße gesteinigt und Bombenanschläge verübt. Und jetzt regieren sie! Auf Lesbos gab es eine riesige Demonstration. Joel hat dort zu dem Zeitpunkt als Freiwilliger gearbeitet. Zusammen haben wir „Whirling“ geschrieben, ein Lied über die afghanischen Frauen. Das war der Beginn von „34 afghan windows“. Ich konnte einfach nicht mehr schweigen. Es ging nicht. Mit dem Projekt wollen wir nicht nur Kunst machen, sondern uns auch politisch positionieren.
taz: Frauen in Afghanistan können sich nicht öffentlich äußern oder gar kritisch positionieren.
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privat
Yaqubee: Die Taliban haben Frauen alles genommen. Afghanische Frauen haben überhaupt keine Rechte mehr. Schritt für Schritt wurden sie aus allen Bereichen der Gesellschaft verdrängt. Wenn du nur Unterdrückung kennst, ist es schwer, da wieder von selbst rauszukommen. Mit „34 afghan windows“ erzählen wir von den Frauen hinter der Burka, der verbotenen Kunst, der tyrannischen Herrschaft der Taliban, dem Leben auf der Flucht und der Hoffnung auf eine freie und friedliche Welt. Ich wünsche mir, dass Frauen in Afghanistan auf die Straße gehen und für ihre Freiheit kämpfen. Aber dafür brauchen sie unsere Unterstützung. Denn ich weiß nicht, ob sie das alleine schaffen können.
