Als Bundestagsvizepräsident Omid Nouripour am Freitag um 12.41 Uhr die namentliche Abstimmung über das Rentenpaket eröffnet, steht Friedrich Merz als einer der Ersten auf. Verständlich, dass der Kanzler schnell wissen will, ob er die gewünschte eigene Mehrheit hinter sich hat.
Immerhin ist auf dem Weg zur Wahlurne noch Zeit, kurz mit seinem in die Kritik geratenen Kulturstaatsminister Wolfram Weimer zu plaudern. Auch der Rest des Plenums strebt zu den Urnen. Diese werden um 13.02 Uhr geschlossen.
Die Erlösung für Merz kommt dann in Etappen. Erst die Verkündung, dass das Gesetz mit 319 Stimmen angenommen wird. Dann muss gewartet werden, bis die Aufschlüsselung der namentlichen Abstimmung veröffentlicht wird.
Jens Spahn, der Vorsitzende der Unionsfraktion, gibt um 13.45 Uhr mit dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe Alexander Hoffmann eine Stellungnahme ab. Sie klingen so, als seien sie sich der Kanzlermehrheit sicher. Tatsächlich haben am Ende 318 Abgeordnete von CDU, CSU und SPD dem Rentengesetz zugestimmt. Sieben Nein-Stimmen bei der Union, und zwei Enthaltungen.
Informelle Vertrauensfrage
Intensiv hatte die Fraktionsführung die Tage vor der Abstimmung genutzt, um die Kritiker, die mit einem Nein gedroht hatten, zu überzeugen. Obwohl das Gesetz nur eine einfache Mehrheit gebraucht hätte, hatte Merz zuletzt persönlich und öffentlich gesagt, dass er mindestens 316 Koalitionsstimmen erwarte, also die absolute Mehrheit aus eigener Kraft. Damit machte er die Abstimmung zu einer informellen Vertrauensfrage.
Zumindest dieses Mal hat er sie gewonnen. Aber schon die Bitte Spahns an die Kritiker, in Abweichung von der in der Fraktionsgeschäftsführung festgelegten Frist nicht bis Donnerstag, 17 Uhr, Bescheid zu geben, wenn sie mit Nein stimmen wollten, sondern bereits bis Mittwochmittag, zeigte, wie viel Gesprächsbedarf man sah.
Als am Freitagmorgen der Tagesordnungspunkt immer noch nicht abgesetzt ist – wie es unmittelbar vor der Verfassungsrichterwahl im Sommer geschehen war – ist das immerhin ein Hinweis auf den Optimismus der Unionsspitze. Gemessen an der öffentlichen Aufregung, dem politischen Streit, der Verunsicherung in der Koalition geht die Debatte sehr ruhig los.
Start ist, wie in der Tagesordnung festgelegt, zwanzig Minuten nach 11 Uhr. Die Plätze der beiden wichtigsten Unionsleute, des Kanzlers und des Fraktionsvorsitzenden, bleiben zunächst leer.
Spahn nimmt seinen Platz immerhin zehn Minuten nach Debattenbeginn ein. Merz kommt erst, als die Debatte schon eine Dreiviertelstunde währt. Ein vorangegangener Termin habe länger gedauert, heißt es auf Nachfrage.

Die oberste Rentenfachfrau der SPD-Fraktion, Dagmar Schmidt, beginnt und sagt, was zwar jeder weiß, was aber dennoch der Urgrund für den Streit der vorigen Wochen ist, der am Ende sogar zur Machtfrage für den Kanzler geworden ist. „Die Sicherung des Rentenniveaus ist uns besonders wichtig.“
Die AfD wirft der Koalition anschließend vor, sie beschließe die Rente mit Hilfe von Linksextremisten, wie es die Abgeordnete Ulrike Schielke-Ziesing sagt. Das zielt auf die Ankündigung der Linken-Fraktion, sich zu enthalten. Damit wäre eine einfache Mehrheit auch dann wahrscheinlich gewesen, wenn nicht genug Unionsabgeordnete an der absoluten Mehrheit mitgewirkt hätten.
Linnemann lobt die Aktivrente
Dann tritt Carsten Linnemann ans Rednerpult, der CDU-Generalsekretär und stellvertretende Fraktionsvorsitzende mit der Zuständigkeit für Arbeit und Soziales. Der sonst so temperamentvoll redende CDU-Abgeordnete erzählt ruhig von einem Bäcker aus seinem Wahlkreis, der im Gespräch mit ihm Interesse an der Aktivrente gezeigt habe.
„Für mich persönlich ist es das innovativste Element in diesem Rentenpaket“, versucht Linnemann zunächst von der Macht- zur Sachfrage zu wechseln. Dann aber sagt er, wie wichtig weitergehende Rentenreformen seien, die in der Kommission vorbereitet werden sollten, die schon bald ihre Arbeit aufnimmt. Dafür brauche man „heute ein starkes Mandat“, sagt Linnemann. Für die Koalition, aber auch für den Bundeskanzler.
In gewohnter Höchstgeschwindigkeit wettert anschließend Heidi Reichinnek, Fraktionsvorsitzende der Linken, gegen das Rentengesetz. Auf die Zwischenfrage aus den Reihen der Sozialdemokraten, warum die Linke denn dann nicht mit Nein stimme, antwortet Reichinnek, weil es den Rentnern ohne das Gesetz schlechter ginge. Zuvor hat der Grünen-Abgeordnete Andreas Audretsch die Linke als „Mehrheitsbeschaffer für Friedrich Merz“ bezeichnet und das Nein seiner Fraktion verkündet.

Um 12.33 Uhr spricht gegen Ende der Debatte Pascal Reddig, der Vorsitzende der Jungen Gruppe in der Unionsfraktion, die mit ihrer Drohung, dem Rentenpaket nicht zuzustimmen, Spahn das Leben so schwer gemacht haben.
Der Fraktionsvorsitzende klatscht trotzdem, als Parteifreund Reddig ans Mikrofon tritt. Der wiederholt die Kritik, sagt, das Gesetz widerspreche allen seinen Überzeugungen, allem, wofür er Politik mache. Deswegen habe er sich entschlossen, gegen das Paket zu stimmen. Dann zollt er denjenigen Respekt, die eine andere Entscheidung getroffen hätten. Drei Meter rechts hinter Reddig hört Merz von der Regierungsbank aus zu. An ihn dürfte Reddigs Hinweis gerichtet sein, dass er gegen ein Aufweichen der Schuldenbremse ist.
Welches Spiel spielt die Linke?
Damit endet die Debatte. Aber dieser Tag, sogar die vergangenen Wochen, dürften den Spitzen der schwarz-roten Koalition noch lange in Erinnerung bleiben. Denn nun ist das Rentenpaket zwar beschlossen, aber einige Fragen bleiben offen. Zunächst: Welches Spiel spielt eigentlich die Linke?
In Unions- und SPD-Kreisen wird die Cleverness von Reichinnek anerkannt. Die Fraktionsvorsitzende hatte Mitte der Woche bekanntgegeben, dass sich ihre Fraktion bei der Abstimmung enthalten werde.
Das bedeutete gleich mehrere Dinge: Selbst wenn Dutzende Unionsabgeordnete gegen das Gesetz gestimmt hätten, hätte es durch das staatstragend anmutende Verhalten der Linken trotzdem eine Mehrheit gefunden. Aber dann wäre das Rentenpaket, ja eigentlich die Zukunft der Merz-Kanzlerschaft eine von Gnaden der Linken.
Das konnte Merz nicht wollen – und die Junge Gruppe doch eigentlich auch nicht. Oder? Es ist unklar, ob und welche Denkprozesse die Ankündigung der Linken bei dem ein oder anderen jungen Unionsabgeordneten ausgelöst hat.
Die Linke nutzt den Wehrdienst zur Abgrenzung
Die Linke wollte sich wiederum auch nicht zu sehr im Verdacht sehen, mehr für Merz getan zu haben als zuletzt Spahn. Dafür bot die Wehrdienst-Debatte zu Beginn des Tages eine gute Gelegenheit.
Die Abgeordnete Desiree Becker sprach von einem „Regiment Merz“, in dem niemand dienen sollte. Sie wandte sich vom Rednerpult im Bundestag an die jungen Menschen. Die Regierung wolle, dass sie in den Krieg ziehen. „Ihr habt jedes Recht, euch zu wehren.“ Becker unterstützte die Demonstrationen und Schülerstreiks, die für Freitag angekündigt waren.
Die Redner von Union und SPD bemühten sich im Anschluss um Aufklärung. Was wurde am Freitag beschlossen? Alle Männer, die nach dem 1. Januar 2008 geboren wurden, müssen vom nächsten Jahr an einen Fragebogen zum Wehrdienst ausfüllen, von Mitte 2027 an müssen sie auch zu einer Musterung erscheinen. Frauen können sich freiwillig mustern lassen.
Für tauglich befundene Kandidaten sollen zum Dienst, der mindestens sechs Monate dauert, bei der Bundeswehr ermutigt werden. Um den Dienst attraktiver zu machen, wird ein monatliches Bruttogehalt von etwa 2600 Euro gezahlt. Es soll außerdem einen Zuschuss zum Auto- oder Lastwagenführerschein geben.

So will Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) die in der NATO vereinbarten Personal- und Fähigkeitsziele erreichen. Im Krisen- oder Kriegsfall müsste die Bundeswehr demnach 460.000 Soldaten bereitstellen. Dazu soll es bis 2035 rund 260.000 aktive Soldaten geben. Derzeit sind es etwa 184.000.
Das Gesetz sieht auch einen Aufwuchspfad mit Zielkorridoren vor. Der Bundestag muss jedes halbe Jahr über den Personalstand bei der Bundeswehr informiert werden. Das beschlossene Gesetz sieht keine Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht vor.
Allerdings öffnet es eine Tür zur sogenannten Bedarfswehrpflicht für den Fall, dass die angestrebte Personalstärke nicht erreicht wird. Dann käme wohl auch wieder ein Losverfahren ins Spiel. Einen Automatismus zum Übergang in die Bedarfswehrpflicht gibt es nicht, auch keinen festen Überprüfungstermin, zu dem bestimmte Zahlen erreicht sein müssen.
Die Einführung der Bedarfswehrpflicht bleibt damit eine politische Entscheidung. Weiterhin besteht außerdem das im Grundgesetz zugesicherte Recht auf Kriegsdienstverweigerung.
Pistorius warb am Freitag leidenschaftlich für den Wehrdienst. „Wir, Deutschland, sind längst zum Schrittmacher der Verteidigung in Europa geworden.“ Er erwähnte aber nicht, welchen Ärger es auch zu diesem Gesetz in der Koalition gegeben hatte. In diesem Fall waren es die SPD-Abgeordneten, die mit dem gefundenen Kompromiss nicht einverstanden waren.
Deswegen bleibt auch nach der gelungenen Rentenabstimmung am Freitag bei den Koalitionspartnern ein schales Gefühl. Denn es stehen ja noch einige weitere kontroverse Gesetze auf dem Plan, etwa das Gemeinsame Europäische Asylsystem.
Und auch die Rentendebatte ist nicht beendet. Die zuständige Kommission wird zeigen, ob eine umfassende Reform des Systems möglich ist – und die SPD zu ihrer Zusage steht, echte Reformen mitzutragen.
Die Mitglieder der Jungen Gruppe, unabhängig davon, ob sie dem Rentenpaket nun zustimmten oder nicht, machten klar: Sie trauen der SPD nicht. Die Sozialdemokraten haben derweil Zweifel an der Autorität von Spahn und Merz gegenüber den eigenen Leuten. Die Vertrauensfrage ist also nicht endgültig beantwortet.
