
Eigentlich gehen wir als Eltern früh schlafen. Doch an diesem Donnerstagabend saßen wir bis nach Mitternacht vor dem Bildschirm. Wir wollten die Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises für Fernsehjournalismus nicht verpassen – zu aufgeladen war die Debatte um eine der Preisträgerinnen: Sophie von der Tann. In den vergangenen Tagen hatte es reichlich Kritik gegeben, doch ebenso beachtliche Rückendeckung. Von der Tann, TV-Korrespondentin im ARD-Studio Tel Aviv, berichtet seit vier Jahren aus Israel, dem Westjordanland und Gaza. Die Jury lobte sie als „krisenfeste und unerschrockene Korrespondentin, die sich nicht scheut, Dinge beim Namen zu nennen“. Unter dem Vorsitz von Sandra Maischberger verwies sie zugleich auf die wachsende Schwierigkeit deutscher Journalisten, „auch kritisch über Israels Politik und Kriegführung“ zu berichten.
Hochverdient, sagen die einen. Grundfalsch, ja fatales Signal, die anderen. Während der Preisverleihung protestierten vor dem Kölner WDR-Funkhaus einige Dutzend Menschen, schwenkten Israelflaggen und Plakate mit Slogans wie „Ist die ARD die Außenstelle der Anti-Israel-Bewegung?“ oder „Kein Preis für israelfeindliche Propaganda!“. Die Polarisierung, die jede Debatte über Israel und Palästina heimsucht, war also zuverlässig zur Stelle. In sozialen Medien wurde von der Tann wahlweise zur „Antisemitin der Woche“ gekürt oder als „Hamas-Unterstützerin“ diffamiert – oder, auf der anderen Seite, als Opfer einer vermeintlich „staatlich gesteuerten Kampagne“ verteidigt.
In dieser Zeitung übte Esther Schapira in einem Gastbeitrag scharfe Kritik. Sie warf von der Tann „einseitige Parteinahme“ und „Emotionalisierung statt Analyse“ vor. In einem Gespräch mit dem bayerischen Antisemitismusbeauftragten habe die Korrespondentin zudem auf die „historische Vorgeschichte“ des 7. Oktobers verwiesen – den hundertjährigen Konflikt zwischen Juden und Arabern –, was Schapira als Relativierung des Massakers deutete. Es sind schwere Vorwürfe, die sich allerdings kaum halten lassen, wenn man die Berichterstattung der vergangenen Jahre betrachtet. Und dort, wo Fakten nicht genügen, beginnt das Psychologisieren. So attestierte die Publizistin Anetta Kahane der Korrespondentin bei Berichten über palästinensisches Leid eine veränderte „Temperatur“. Der Vorwurf lautet, die ARD-Korrespondentin schaut „menschlich“ und „voller Empathie“ auf Palästinenser, aber „kalt und hasserfüllt“ auf Israel.
Misstrauen gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Der frühere Sprecher der israelischen Armee, Arye Sharuz Shalicar, griff noch drastischer zu: Auf der Plattform X nannte er von der Tann „das Gesicht vom neu-deutschen Juden- und Israelhass“. Der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert, widersprach und verurteilte die „üble Diffamierung“. Damit stellte er sich gegen Israels Botschafter in Berlin, Ron Prosor, der der ARD-Korrespondentin Aktivismus vorwarf. Selbst israelische Medien sprangen auf: Ein Journalist der „Yediot Acharonot“ spekulierte öffentlich über die NS-Vergangenheit der Familie von der Tanns – und riet ihr, nach Gaza zu ziehen.

Ob preiswürdig oder nicht: Die Vehemenz der Kritik verweist auf ein tiefer liegendes Misstrauen gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dem in der Nahostberichterstattung Einseitigkeit und bisweilen Antisemitismus vorgeworfen werden. So sprach die Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel bei den Kölner Mediengesprächen gar von einem „Versagen der Medien“ und präsentierte Beispiele aus ARD und ZDF, die ihrer Ansicht nach antisemitische Muster reproduzierten, ohne jeglichen gesellschaftlichen Aufschrei. Der deutsch-israelische Rapper Ben Salomo raunte gar von einer „systematisch voranschreitenden Palästinarisierung des ÖRR“ – also davon, dass jüdische oder proisraelische Stimmen aus den Medienanstalten verdrängt würden, ähnlich wie die Nazis ihre Arisierung vorantrieben. Schapira beschreibt die Situation in Redaktionen so: „Im vertraulichen Gespräch berichten Mitarbeitende von einem bedrückenden Klima der Ausgrenzung derjenigen, die sich nicht einreihen in die ,Palästina-Solidarität‘.“
Das Buch „Staats(räson)funk“ markiert die Gegenposition
Eine nahezu spiegelbildliche Klage hört man von Kritikern auf der anderen Seite. So sprach die Medienkritikerin Nadia Zaboura in der „taz“ von einer Droh- und Angstkulisse, mit der deutsche Redaktionen konfrontiert seien. Sie zitiert die ARD-Korrespondentin Hanna Resch, die von Angst vor Shitstorms und vor „proisraelischen Lobbyorganisationen sowie der israelischen Botschaft“ berichtet. Der Titel eines neuen Buches von Fabian Goldmann über die deutsche Nahostberichterstattung – „Staats(räson)funk“ – markiert programmatisch die Gegenposition: Die deutsche Staatsräson, die das besondere Verhältnis zu Israel definiert, bestimme die Berichterstattung maßgeblich.
Wir kennen Sophie von der Tann seit einiger Zeit. Sie zur Israelhasserin oder gar Antisemitin zu erklären, ist schlicht falsch. Sicherlich ist die momentane Wucht der Angriffe für sie schwer auszuhalten. Doch der aggressive Ton ist nicht nur ihr persönliches Problem. Er ist ein Symptom unseres postfaktischen Zeitalters. Die Empörung in der proisraelischen Blase ist echt: Bekannte erzählten uns, sie könnten kaum noch deutsche Fernsehbeiträge ertragen, so antiisraelisch erscheine ihnen alles. Schon die bloße Nennung des Vorwurfs eines möglichen Völkermords sei für sie eine Reproduktion antisemitischer Narrative.
Andere Bekannte hingegen monieren – ebenso überzeugt –, dass Israel kaum kritisiert werden dürfe. „ARD und ZDF sind längst ein Propagandakanal Netanjahus“, sagte uns eine Freundin, weil „der Genozid in Gaza“ verschwiegen werde. Beide Seiten bedienen ihre Filterblasen, die ihre jeweilige Weltsicht zuverlässig bestätigen. Was jedoch notwendig wäre: auch jene Informationen auszuhalten, die das eigene, bequeme Narrativ irritieren. Es ist leichter, „die Medien“ der Einseitigkeit zu bezichtigen, als die eigene Einseitigkeit zu erkennen. Und erstaunlich bleibt, wie entschieden die ÖRR-Kritiker auftreten: Haben sie wirklich sämtliche Hörfunk-, Fernseh- und Onlineangebote verfolgt? Oft ist die Kritik selektiv – man sieht nur, was ins eigene Ärgerprofil passt.
Wir selbst haben diesen Reflex erlebt, als uns im Frühjahr ein Team des ZDF-„Auslandsjournals“ bei einem Besuch in Israel und der Westbank begleitete. Wir trafen israelische und palästinensische Freunde, die sich für Frieden engagieren. Als die Dokumentation ausgestrahlt wurde, galt sie auf Social Media abwechselnd als „proisraelisch“ oder „antiisraelisch“. Es schien, als seien das die einzigen beiden Schubladen. Für uns war es ein einmaliges Erlebnis. Für Korrespondenten, die jeden Tag liefern müssen, ist das der Normalzustand.
Dass das Misstrauen gegenüber Leitmedien von beiden Seiten genährt wird, belegen nun auch Daten. Vor wenigen Tagen stellte der Medienwissenschaftler Carsten Reinemann eine repräsentative Umfrage zur Wahrnehmung der Nahostberichterstattung seit dem 7. Oktober 2023 vor. Die Ergebnisse zeigen, wie eng die Bewertung der Medien an die eigene Haltung zum Konflikt gekoppelt ist. 20 Prozent sympathisieren eher mit Israel, 16 Prozent mit den Palästinensern, 29 Prozent mit beiden, 36 Prozent mit keiner Seite. Unter den propalästinensischen Befragten halten 78 Prozent die Berichterstattung für proisraelisch verzerrt. Unter jenen, die beiden Seiten zuneigen, sind es 34 Prozent. Und selbst von den proisraelisch Eingestellten findet ein Drittel, die Medien seien propalästinensisch.
Wir dürfen dankbar sein für die Vielfalt unserer Medienlandschaft
Wer die Debatte um Sophie von der Tann verfolgt, könnte meinen, große Teile der Bevölkerung empfänden die Berichterstattung als antiisraelisch. Doch die Studie zeichnet ein anderes Bild: Nur neun Prozent sehen eine Verzerrung zugunsten der Palästinenser, während dreißig Prozent eine Pro-Israel-Schieflage wahrnehmen. Wie also steht es tatsächlich?
Gewiss: Es gibt vieles im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu kritisieren, strukturell wie programmatisch. Eine Reform tut not – das ist allenthalben zu hören, auch aus den eigenen oberen Reihen. Und doch dürfen wir dankbar sein für die Vielfalt unserer Medienlandschaft. Für die Nahostberichterstattung gilt: Wir brauchten mehr Journalisten, die – wie Sophie von der Tann – Arabisch und Hebräisch sprechen, um Mentalität und Realität vor Ort besser zu erfassen. Und mehr Fachwissen in den Redaktionen: vom Werkstudenten, der Kommentarspalten moderiert, über die Redakteurin am Liveticker bis hin zum Intendanten.
Denn am Ende geht es um mehr als um die Frage, wie über den Nahostkonflikt berichtet wird. Diejenigen, die das Misstrauen gegenüber Leit- und Qualitätsmedien fördern, greifen – bewusst oder unbewusst – das Vertrauen in das demokratische System an. Populisten und Verschwörungserzähler haben leichtes Spiel, wenn die vierte Gewalt durch „alternative Medien“ und Echokammern ersetzt wird. Nicht ohne Grund warnte der Verfassungsrechtler Andreas Voßkuhle bei der Preisverleihung, die Angriffe auf Medien hätten sich „zu einem veritablen Kulturkampf“ ausgeweitet. Gerade jetzt brauchen wir Journalisten, die sich von Populisten und „Polarisierungsunternehmern“ (Steffen Mau) nicht einschüchtern lassen.
