DIE ZEIT: Herr Kluge, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sand kein Element, sondern ein Zustand sei. Was meinen Sie damit?
Alexander Kluge: Sand ist ein eigenartiges Ding. Ich habe das erst richtig entdeckt, als ich mich an einer Ausstellung des Künstlers Thomas Demand in Paris beteiligte. Die Ausstellung hatte den Titel Sand der Zeit. Dabei fiel mir auf: Man sagt ja, auf Sand könne man nichts bauen – er gibt nach, er gehorcht nicht. Und doch ist er unglaublich beständig. Sand ist Millionen Jahre alt, stammt ursprünglich aus dem Meer, wird zu Gestein verdichtet, von Flüssen abgeschliffen und kehrt wieder zurück ins Meer. Die Körner selbst verändern sich kaum, sie bleiben, was sie sind.
ZEIT: Schon als Kinder spielen wir mit Sand, er weckt unsere Fantasie, schärft den Sinn fürs Mögliche.
Kluge: Ganz genau. Unter dem Mikroskop sind Sandkörner kleine Felsen, winzige Stücke Welt. Locker und unbeständig und doch fest, uralt. Die Sanduhr ist nur ein Symbol, aber Sand selbst ist wie die Zeit, in der wir leben: hart und flüchtig zugleich, beständig und im Wandel begriffen.
ZEIT: Und doch gibt es Sand, der komplett leblos zu sein scheint, sei es durch Zerstörung, Versiegelung, Übernutzung.
Kluge: Das bewegt mich. Es gibt so etwas wie Sand zweiter Ordnung. Der Wüstengürtel auf der Erde hat ein eigenes Leben in sich. Das ist Natur. Nicht nur die Oasen, auch die Sanddünen selbst sind in Bewegung, voller Leben. Ganz anders ist es mit der synthetischen, extrem zerkleinerten Substanz, die Drohnen- und Raketenangriffe hinterlassen. Dieser Sand ist für mich etwas Schreckliches.
ZEIT: Inwiefern?
Kluge: Man muss nur an den zerstörten Sand in Gaza denken: Dort hat sich die Substanz der Häuser in eine zähflüssige, sandige Masse verwandelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland wenigstens Ziegelreste, aus denen die Trümmerfrauen die Backsteine sammelten und schichteten. In Gaza blieb nur eine mehlige, unnatürliche, sandähnliche Masse zurück, die für keinen Wiederaufbau taugt. Eine Art von Sand, die alles verschluckt, was lebendig werden könnte.
ZEIT: Immer mehr Kämpfe werden aber auch um wertvollen Sand geführt.
Kluge: Ja, um Seltene Erden und um den Sand, aus dem unsere Chips bestehen. Das ist gewissermaßen Sand dritter Ordnung. Es ist der Sand der Technologie, der in unseren Geräten steckt, destilliert, raffiniert, aufgeladen mit Rechenleistung. Silizium hat heute den Stellenwert, den im 19. Jahrhundert das Eisen hatte. Aber verbaut in Beton zu Städten und danach durch Kriegsmittel zertrümmert, bildet Silizium eine „entnervte Materie“, einen Sondermüll, der zu keinem Aufbau taugt und schwer zu entsorgen ist. Eine Art Materie, die die Natur nicht kennt. Ganz im Gegensatz zum Sand erster Ordnung, dem Wüstengürtel, in dem es als Zuflucht die Oase gibt.
ZEIT: Der Mensch siedelt, erzählt, baut – und zerstört. Und doch gerät gerade das Erzählen heute ins Stocken.
Kluge: Ja. Ich wüsste nicht, wie ich über den Krieg in Gaza direkt schreiben sollte. Ich würde unweigerlich in eine Kette aus Argumenten, Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen geraten, die sich mit poetischen Mitteln gar nicht bändigen lässt. Dabei hat uns schon der Dichter Matthias Claudius beigebracht: Es kommt im Krieg gar nicht darauf an, wer schuld ist. Die mörderische Seite unterscheidet nicht, wer schuld ist. Moral wird abstrakt gegenüber dem, was real geschieht.
ZEIT: Woher kommt die Sprachlosigkeit?
Kluge: Einerseits liegt es an der Struktur der Medien. Ich habe noch nie eine der Nachrichtensprecherinnen oder einen der -sprecher weinen sehen, wenn sie vom Krieg berichten – und sie singen auch nicht. Aber genau das taten die Sänger Homers: Sie berichteten von den bitteren Ereignissen in Troja, doch mit Musik, Rhythmus und Emotion. Obwohl wir heute technisch besser erzählen können, bleibt vieles unausgesprochen. Das ist Stummheit, eine Stummheit unserer Zeit.
