Élise Amélie Félicie Stern kommt 1901 im 8. Bezirk zur Welt, dass sie unter dem Namen Lisette Model in der Welt der Fotografie eine Hausnummer werden sollte, war ihr nicht vorgezeichnet. Der Vater, ein assimilierter jüdischer Arzt, der den Familiennamen in Seybert ändert, und die Mutter eine französische Katholikin, sind wohlhabend. Lisette studiert Harmonielehre und Tonsatz bei Arnold Schönberg, nimmt Gesangsunterricht, tummelt sich im Umfeld der Expressionisten, liebäugelt mit der Malerei. Als ihr Vater 1924 stirbt, hat sich der Großteil des Familienvermögens verflüchtigt, und der Antisemitismus ist auf dem Vormarsch. Lisette ist fünfundzwanzig, als sie mit Mutter und Schwester nach Paris übersiedelt.
Sie porträtiert Obdachlose und Kriegsversehrte
Vor der Frage, welchen Brotberuf sie ergreifen solle, greift Lisette nach der Fotografie, damals ein Beruf, der gerade junge Frauen lockt. In Paris rät ihr die Malerin und Porträtfotografin Rogi André, nur Motive abzulichten, die wie ein Schlag in die Magengrube auf sie wirkten. Also zieht sie mit ihrer Rolleiflex los, porträtiert Obdachlose und Kriegsversehrte, von denen es nach dem Ersten Weltkrieg viel zu viele auf den Straßen gibt. Sie tut es auf eigene Kappe, ohne Auftrag einer Zeitschrift, und sie geht nahe ran an die Menschen, wählt knappe Bildausschnitte.

Negative zeigen anhand der Anstriche, wie wichtig ihr schon in verflüchtigten Anfängen die Kontrolle über den Bildausschnitt ist. Als sie 1934 in Cannes auf der Promenade des Anglais reichen, dekadenten Badegästen zu Leibe rückt, zeigt sie die andere Seite der französischen Zwischenkriegsgesellschaft. Blasierte Müßiggänger, deren Blick in die Kamera geradezu verächtlich wirkt, als könne ihnen diese lästige Fotografin nichts anhaben. Umgekehrt wird die Kamera wie eine Waffe eingesetzt. Diese Serie ist Lisette Models Durchbruch, dass sie in dem linken Magazin „Regards“ erscheint, das bekannt ist für seine Klassenkampfrhetorik, sollte in ihrem späteren Leben noch eine Rolle spielen.

Im gleichen Jahr lernt sie den russischen Juden Evsa Model kennen, einen eher erfolglosen Vertreter der konstruktivistischen Malerei, heiratet ihn, nimmt seinen Namen an und geht mit ihm 1938 nach New York. Eigentlich um Evsas Schwester zu besuchen, doch dann ist an eine Rückkehr ist nicht mehr zu denken. Lisettes Bruder Salvator sollte 1944 in Auschwitz ermordet werden.

Die Dynamik New Yorks fasziniert sie, gleichzeitig stoßen sie die sozialen Gräben ab, hier die Armen der Lower East Side, dort die Bonzen in der Wall Street. Dazu die Ambivalenzen, die das Leben in einer Exilgemeinde und in einer armseligen Kellerwohnung mit sich bringt. Ihr Stil verändert sich, sie verschwindet mit ihrer Kamera hinter spiegelnden Schaufenstern. Die Serie „Reflections“ bietet rätselhafte Perspektiven, die sich nicht auflösen lassen, die aber nicht bearbeitet sind. Model steht auf Kellertreppen, die Kamera auf Höhe des Trottoirs, und macht für die Serie „Running Legs“ Bilder von Beinen der Passanten. Diese offenbaren nicht nur die Uniformität von Schuhmode und Kleiderlänge, der Blick auf den Boden ist ungewöhnlich in der Stadt der Wolkenkratzer, in der alle Fotografen nach oben schauen.
Sie zieht durch bekannte Musikbars wie „Sammy’s“, porträtiert Sängerinnen, häufig aus der Untersicht. Auch hier zunächst ohne Auftrag, entpuppt sich Model als Kontaktgenie, kommt innerhalb weniger Jahre im Zentrum der Szene an, schon 1942 kauft das Museum of Modern Art Bilder von ihr. Sie fotografiert für „PM’s Weekly“ und „Harpers Bazaar“ und dessen legendären Art Director Alexei Brodowitsch. Gleich ihr erster Magazinauftritt 1941 mündet in dem ikonischen Bild „Badende auf Coney Island, New York“, vermutlich ihre bekannteste Fotografie, die eine vergnügte, üppige Frau in Sumo-Ringerhaltung zeigt. „Ihr pralles, wuchtiges Fleisch zelebriert die weibliche Körperlichkeit“, schreibt Duncan Forbes in seinem Katalogbeitrag, und zeige damit das genaue Gegenteil dessen, was von der Modeindustrie verherrlicht worden sei.

Model freundet sich mit Berenice Abbott an, die als Mitglied der sozialistischen New York Photo League arbeitet, da passt Lisette Model mit ihrer kompromisslosen Straßenfotografie perfekt ins Portfolio. In San Francisco mischt sie sich 1949 unter das Opernpublikum; in Reno, einer Anlaufstelle für unbürokratische Eheauflösungen, zeigt sie mit ihren Porträts frisch geschiedener Frauen eine überraschend einfühlsame Zartheit.
Dass sie mit dem Beschnitt von Fotografien wenig Probleme hatte, habe ihr sicher geholfen, davon ist Walter Moser überzeugt. Der Sammlungsleiter Fotografie der Albertina hat für die Retrospektive 154 Exponate zusammengetragen, 25 davon aus eigenem Bestand, der Löwenanteil der Bilder liegt heute in der Nationalgalerie Kanadas in Ottawa. Model hätte sich nie verbogen, nur um einem Magazin zu gefallen, sagt Moser. Sie habe erst abgedrückt, und dann mit den Porträtierten gesprochen, nicht umgekehrt.
Die Drohung der FBI-Agenten lautet: Ausbürgerung
Moser deutet den Blick als einen wienerisch geprägten, weil Lisette Model die Malweise des Expressionismus verinnerlicht habe – etwa durch die Bilder ihres Lehrers, des malenden Komponisten Schönberg. Mit Hässlichkeit habe sie kein Problem gehabt. Ihre Bilder der Serie Lower East Side belegen die These eindrücklich. Paul Strand, auch er Mitglied der Photo League, habe Lisette gewarnt – so könne man die USA nicht fotografieren. Sie kann, aber sie zahlt in den McCarthy-Jahren nach einer Vernehmung 1954 einen hohen Preis, wie ihre FBI-Akte belegt. Es geht um ihre Verbindung zur zwischenzeitlich aufgelösten Photo League, und um die Frage, ob sie Mitglied der Kommunistischen Partei sei. Model wird mit Ausbürgerung bedroht, sie kommt auf die National Security Watchlist, weil sie die Zusammenarbeit mit dem FBI verweigert. Auftraggeber wenden sich ab, darunter auch „Harper’s Bazaar“.
Nach dieser erneuten Vertreibungserfahrung wacht sie fortan rigoros über die Deutung ihrer Bilder, negiert jegliche politischen Botschaften ihrer Arbeiten, verschleiert Fakten ihrer Biographie. Und verlegt sich zunehmend aufs Unterrichten, an der New School for Social Research, und in privaten Kursen. Als pädagogisches Naturtalent versammelt sie viele Schüler um sich, deren berühmteste Diane Arbus wird. Mitte der Fünfziger erkundet sie mit der Serie „Pferderennbahn Belmont Park New York“ ein neues Milieu, wendet sich schließlich den Größen des Jazz zu.
Dann beginnt ihr Ausstieg, 1959 hört sie auf zu publizieren. Sie fotografiert weiter, lässt aber kaum noch Abzüge anfertigen. Eine erste große Welle der Wiederentdeckung spült ihre Bilder 1981 ins New Orleans Museum of Art, die Ausstellung wird ein Jahr später im Folkwang Museum Essen gezeigt. 1983 stirbt Lisette Model in New York. In Wien, der Stadt, die sie nie wieder betreten hat, hat man vor neun Jahren im 8. Bezirk einen Platz nach ihr benannt. Das war wohl das Mindeste, wie die Ausstellung unterstreicht.
Lisette Model. Retrospektive. Albertina, Wien. Bis 22. Februar 2026. Der Katalog (Prestel Verlag) kostet im Museum 32,90, im Buchhandel 49 Euro.
