Theater Freiburg mit urbanem Spirit: Der Krüge queerster ist entzwei

Muss denn diese Vergewaltigungsszene sein? Wahrscheinlich schon. Die Girlie-Horde in zarten Nachthemden stürzt sich auf Jana Baldovino, die im Theater Freiburg den Part von Schreiber Licht aus Heinrich von Kleists „Der Zerbrochene Krug“ spricht. Sie wirkt verängstigt: Das Durchkitzelspiel der Übernachtungsparty bei Eve läuft aus dem Ruder.

Die An­grei­fe­r*in­nen können sich einfach nicht bremsen. Irgendwann ist die Attacke vorbei und der Mädchenabend, den Yana Eva Thönnes statt der guten alten Gerichtsdramenhandlung inszeniert hat, geht weiter, als wäre nichts gewesen. Vielleicht ist die Rückkehr der Routine das Schlimmste.

Freiburg, „Zerbrochener Krug“, das hätte langweilig werden können. Es erweist sich aber als kluge Standortbestimmung zum Auftakt der Intendanz von Felix Rothenhäusler. Freiburg ist als Oberzentrum des ländlichen Schwarzwalds der Tradition, als Stadt einer Uni von Weltruf der Avantgarde verpflichtet.

Hier muss Theater die kulturellen Friktionen der Gegenwart ertragen – und mit ihnen umgehen. Es hat daher etwas von einem Signal, die erste Klassikerproduktion der Intendanz ausgerechnet in die Hände von Thönnes zu geben.

Das Stück

Der Zerbrochene Krug, R: Yana Eva Thönnes, Theater Freiburg, Großes Haus. Nächste Aufführungen 4., 9. und 17. 12. sowie 2.1., jeweils 19.30 Uhr, 28.12., 15 Uhr.

Die Regisseurin hat sich nach eigenem Bekunden vorher für Klassiker nicht interessiert. Jetzt bringt sie einen zur Aufführung, bleibt sich aber treu: Statt vorsichtig ins Hohlgefäß hineinzuhorchen, hat sie gemeinsam mit Dramaturgin Katrina Mäntele Kleists Vergewaltigungsschwank von 1806 zerdeppert und den Schrott der Überlieferung abgeräumt.

Kleist zerdeppern

Weg also mit Kleists Zoten. Es gibt auch keinen Gerichtssaal. Die erzählerische Stringenz und die Personen verunklaren: Nur als ungute Erinnerung, von Laura Palacios cool auf die Geste des Manspreading reduziert, tritt Dorfrichter Adam in Erscheinung. Der Prozess, in dem er jemanden für die titelgebende Sachbeschädigung verurteilen soll, die er selbst begangen hat, bleibt Skizze. Dazwischen Kissenschlacht.

In den Mittelpunkt rückt die Tat. Und Ort der Handlung ist das Mädchenzimmer von Eve. Dessen Fenster öffnen nach hinten auf ein albtraumschwarzes Lointain. Die Gazevorhänge entbergen es eher, als es zu verhüllen.

Nur als ungute Erinnerung, von Laura Palacios auf die Geste des Manspreading reduziert, tritt Dorfrichter Adam in Erscheinung

Katharina Pia Schütz hat den Garten als vereiste Ebene gestaltet. Die Spie­le­r*in­nen durchqueren sie barfuß, mal rennend, mal kriechend auf allen Vieren. Manchmal fällt Schnee. Manchmal ziehen sie übergroße Bipolarbären aus Teddy hinter sich her, tragen selbst Bärenmasken.

Keine männlich gelesenen Spieler

Rothenhäusler war bis zur Übernahme der Intendanz Hausregisseur in Bremen. Die so traurig vor der Zeit zu Ende gegangene Ära von Intendant Michael Börgerding (1960–2025) hat seine sehr entschiedene Ästhetik stark geprägt. Aus Bremen hat er nicht nur eine Untersee-Ausstellung im zweiten Rang und die schräge Musicalproduktion „Wasserwelt“ mitgenommen, sondern auch eine große Zahl dort schmerzlich vermisster Ak­teu­r*in­nen für ein sehr diverses und vielfach genderfluides, kurz ein urbanes Ensemble in den Süden gelockt.

Das passt zum Regieansatz. Thönnes lässt keinen männlich gelesenen Spieler auftreten. Und ihr Cast wirkt superjung: Wie einen sperrigen Fremdkörper bewegen die Ak­teu­r*in­nen Kleists Blankverse im Mund. Sie erscheinen so ganz ausdrücklich als ein artifizielles Idiom von gestern. Bei der amerikanischen Philosophin bell hooks heißt es einmal, die Rückeroberung von Intimität und „eine Erholung vom Trauma“ seien möglich, wenn die Unterdrückten die Sprache der Unterdrückung übernehmen.

Eine Dynamik der Aneignung und Ermächtigung setzt Thönnes recht brüsk in Gang: „Hier bestimme ich“, ruft Jorid Lukaczik als Eve gleich zu Beginn. Klar, als Gastgeberin legt sie die Spielregeln fest. Aber es ist zugleich bitter-ironisch, weil es ja darum geht, wie sie, Eve, ihrer Selbstbestimmung beraubt wurde, im vermeintlichen Safe Space des eigenen Raums, der jetzt ein Tatort ist.

Wer Kleist will, kann ihn ja lesen

Überraschend viele Textscherben und Szenenfragmente des Kleist’schen Originals blitzen dann doch noch auf. Selbst das nervige Lamento der Marthe Rull, der Mutter von Eve, die zürnt, dass der Krüge schönster entzwei sei, fällt nicht aus. So gelingt es, im Spiel die Verletzung, das Intimste, das Eigenste zu einer Sprache zu bringen, die nicht die eigene ist.

Mit Kleists Anliegen hat das nicht viel zu tun. Wer sich für das interessiert, darf gerne den Text lesen. Die Produktion nutzt ihn nicht als Vorlage, sondern als abstrakten Bezugspunkt – für ein gegenwärtiges Anliegen. Das sorgt intertextuell für Spannung. Und auf der Bühne für heutiges, sehenswertes Theater.