Weihnachtsbaum am Rockefeller Center: Volles Mitgefühl

Bitte nicht von den 50.000 LED-Lichtern oder den drei Millionen Swarovski-Kristallen blenden lassen, das mit dem Weihnachtsbaum am Rockefeller Center ist eine entsetzlich traurige Angelegenheit. Auf die Diskussion, dass er als Symbol der westlichen Weihnachtszeit in diesem Monat sehr vielen Menschen, die mit geöffnetem Mund vor ihm stehen werden, eine Freude bereitet, lasse ich mich gar nicht erst ein. Dafür kenne ich ihn schon zu lange.

Anfang November sah ich ihn das erste Mal im Fernsehen, als er noch ein beschauliches Leben in East Greenbush im Bundesstaat New York führte. Seit mehr als 75 Jahren hatte er dort überaus friedlich im Garten der Familie Russ gestanden. Unter Baum-Kollegen sowie den ansässigen Grauhörnchen war er sicher als sehr verlässlich und unter dem Namen „Chuck“ oder „Stanley“ bekannt.

Nur hat ihn dann eines Tages seine eigene Familie an Erik Pauze verraten, den Chefgärtner des Rockefeller Center, der die 23 Meter hohe und 11 Tonnen schwere Fichte zum diesjährigen Weihnachtsbaum von Amerika ernannte. Kurz darauf wurde Chuck nicht nur gefällt, sondern auch entwurzelt und auf einem Schwerlasttransporter gefesselt nach Manhattan verschleppt.

Über seine Ankunft wurde live im Fernsehen berichtet. Als ich ihn einige Tage später dort besuchte, hatten sie ihn in ein Baugerüst geklemmt und diesen albernen weißen Stern, der 400 Kilogramm wiegt, auf seinen Kopf gesetzt. Chuck war kaum zu erkennen, und doch war sein Unbehagen noch bis hinter die Absperrung zu spüren. Das permanente Gehupe in der Stadt machte ihm bestimmt Angst. Auf dem Gerüst wuselten Arbeiter in gelben Warnwesten um ihn herum, um Kugeln und Lichter anzubringen – die letzte, sehr aufwendige Dekoration eines Verurteilten. Unterdessen traten sie ihm wohl auch gelegentlich auf die Arme.

Dabei hatte Chuck nie etwas Böses getan; er war nicht einmal an einem tödlichen Verkehrsunfall beteiligt gewesen. Und obwohl neben seiner Verräter-Familie auch alle anderen permanent betonten, was für eine große Ehre dieses Engagement doch sei, war es scheußlich, ihn so zu sehen. Am Donnerstag dieser Woche wird Chuck nun feierlich enthüllt und dann im Januar zu Bauholz verarbeitet.