Film „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“: Magischer Realismus und Western-Mythos

Die Augen seien das Tor zur Seele, heißt es in einem Sinnspruch, der alt und abgegriffen sein mag, seinen Wahrheitsgehalt aber nie ganz verloren hat. Da ist es schon eine erste kleine Grausamkeit in sich, dass ausgerechnet diese Schwelle zum Innersten im Spielfilmdebüt des chilenischen Regisseurs Diego Céspedes zum Überträger einer Malaise wird.

Zumindest ist es das, wovon die Bewohner einer kleinen abgelegenen Bergbaustadt überzeugt sind, als eine Krankheit über sie hereinbricht, für die sie noch keinen Namen haben, von der sie aber bereits wissen, dass sie den Tod bringt: Ein intensiver Blick in die Augen eines Kranken genüge, um sich zu infizieren.

Die elfjährige Lidia (Tamara Cortés) ist die Erste, die die Folgen dieses gefährlichen Irrglaubens zu spüren bekommt. Als sie sich ein paar Jugendlichen nähert, die im nahen Wasserloch baden, wird sie von ihnen festgehalten, sie schlagen ihr ins Gesicht. „Seuche!“, ruft einer von ihnen.

Der Grund offenbart sich sogleich: Lidia lebt in einer Hütte, die die Bewohnerinnen selbstbewusst als „Tuntenhaus“ bezeichnen. Eine Gruppe von „Transvestiten“ – auch dies eine Bezeichnung, mit der das Drama unbefangen spielt – hat sich dort zusammengeschlossen.

Sie verdienen ihr Geld vor allem mit einem kleinen Nachtlokal, mit Showeinlagen, wahrscheinlich auch mit Prostitution. Und obwohl sich die mehrheitlich aus einsamen Männern bestehende Gemeinschaft nur allzu gern bei ihnen einfindet, wurden die Bewohnerinnen des Hauses kurzerhand zur Quelle des Unheils erklärt.

Der Film

„Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“. Regie: Diego Céspedes. Mit Tamara Cortes, Paula Dinamarca u.a. Frankreich/Chile/Deutschland/Spanien/Belgien 2025, 104 Min.

Der Blick, der Schuld gebiert

An diesem Ort, so vereinzelt er wirkt, treten die Muster einer viel größeren Geschichte hervor. Was Diego Céspedes inszeniert, ist eine magisch aufgeladene Erzählung über die reale Dynamik, die die frühe Aidskrise in ihrem Kern bestimmte: Eine Zeit, in der Unwissenheit zu bizarrsten Ansteckungsszenarien führte – ein Atemzug, ein Händedruck, oder eben ein Blick – und sich Angst in soziale Gewissheit verwandelte.

Ungewöhnlich ist dabei nicht nur der Schauplatz – fern urbaner Räume, in denen filmische Annäherungen an die Aids-Epidemie oft verortet sind –, sondern vor allem der Ton, den Diego Céspedes anschlägt. „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ trägt unverkennbar die Züge eines Westerns: nicht allein im staubigen Setting einer verlorenen Wüstenlandschaft; nicht nur in der leicht schummrigen Saloonatmosphäre des Nachtlokals; sondern auch in der Art, wie die Männer gezeichnet werden.

Zumindest in der Öffentlichkeit geben sie sich als raue, gar archaische Wesen, die mit Pistolen hantieren und deren Stolz schneller aufflammt als ihr Mitgefühl. Das gilt auch für den infizierten Yovani, der augenscheinlich in die titelgebende „Flamingo“ (Matías Catalán) verliebt ist – eine Figur, die mit einer elfenhaften, beinahe sphärischen Aura über dieser Welt aus Härte und Einsamkeit zu schweben scheint und ihr doch früh zum Opfer fällt.

Die Figuren sind wuchtige Persönlichkeiten, in denen sich Stolz, Schmerz und Überlebenskunst verbinden

Für Lidia war Flamingo eine Ziehmutter, weshalb das Mädchen schließlich auf Rache sinnt. Auch wegen dieser Entwicklung ist „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ in seiner ersten Hälfte stellenweise brutal. Wirklich düster aber gerät der Film kaum, da Diego Céspedes den Blick mehr noch als auf die eruptive Gewalt auf die entschlossene Selbstbehauptung der trans Frauen lenkt. Angeführt werden sie von der älteren Mama Boa (Paula Dinamarca), einer matriarchalen Gestalt, die mehr Autorität ausstrahlt als jeder der bewaffneten Männer.

Inseln der Fürsorge

Um sie herum versammelt das Drama eine Reihe markanter Figuren, die – fast wie in einer eigenen queeren Mythologie – Tiernamen wie „Löwin“ oder „Piranha“ tragen. Sie sind keine Karikaturen, keine Abziehbilder, sondern eigenwillige, wuchtige Persönlichkeiten, in denen sich Stolz, Schmerz und Überlebenskunst auf eigentümlich leuchtende Weise verbinden. Durch sie bricht immer wieder ein seltsamer, zugleich warmer und scharfkantiger Humor durch die finster-staubige Oberfläche, als wolle der Film daran erinnern, dass selbst in der Verfolgung ein Rest von Trotz, von Lebenslust, von Gemeinschaft aufschimmert.

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Umso mehr, als Diego Céspedes das Leitmotiv des Blicks im weiteren Verlauf auf eine zweite Ebene hebt. Eines Tages tauchen ältere, versehrte und ausgemusterte Arbeiter vor dem Haus auf – entschlossen, die Krankheit eigenhändig zu stoppen. Die trans Frauen sollen isoliert und bewacht werden, die Augen verbunden. Doch gerade im Schutz vor den urteilenden Blicken der Außenwelt entsteht zwischen den Bewohnerinnen und diesen rauen Männern eine unerwartet zärtliche, beinahe heilende Nähe.

So einleuchtend diese Gedanken sind, in ihrer metaphorischen und historischen Verschränkung, so sehr verliert sich „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ bisweilen in einer mäandernden, schwer greifbaren Erzählbewegung. Diego Céspedes wagt viel, doch nicht immer trägt der Weg: Zu sehr zerfasert der Film zwischenzeitlich, als dass man ihm durchweg mit Begeisterung folgen könnte.

Da überrascht es durchaus, dass er sich in Cannes gegen einen starken Jahrgang in der „Un Certain Regard“-Sektion durchsetzen konnte. Andererseits übersetzt die sich nicht zufällig in „Ein gewisser Blick“– und es lässt sich schwer leugnen, dass Diego Céspedes‘ wundersame, eigenartige schwebende Form des queeren Kinos einen sehr außergewöhnlichen besitzt.