Chemiker enthüllen das Geheimnis perfekt gekochter Spaghetti – Wissen

Eigentlich, denkt man, ist die Kochanleitung für Spaghetti in ihrer schlichten mathematischen Schönheit unbestritten. „100 – 1000 – 10 – 10“, lautet sie gemeinhin. Man gebe hundert Gramm Nudeln in 1000 Milliliter kochendes Wasser, füge zehn Gramm Salz hinzu und lasse das Ganze dann zehn Minuten kochen. Aber das ist nur etwas für einfache Geister. Chemiker und Physiker haben sich jetzt an eine von Grund auf wissenschaftliche Analyse des perfekten Kochprozederes gemacht. Damit könnten sie nicht nur liebevoll weitergegebene Familienrezepte gehörig durcheinanderwirbeln; sie liefern zugleich eine Erklärung, weshalb Gluten-freie Nudeln oft schrecklich labberig geraten.

Die übliche Kochzeit ist ihren Studien zufolge jedenfalls nur für traditionelle Pasta gut vermessen, wenn man „al dente“, also bissfest gekochte Spaghetti haben möchte, wie es sich im Heimatland der Pasta gehört: Nudeln also, die nicht zu weich sind, aber auch nicht zwischen den Zähnen kleben. Zehn Minuten seien für marktübliche italienische Hartweizennudeln perfekt, so das internationale Team um den – natürlich – italienischen Physikochemiker Andrea Scotti.

Den Wissenschaftlern war nichts zu teuer, um den verschiedenen Garzuständen von Spaghetti auf den Al-dente-Zahn zu fühlen. Sie beschossen Supermarktpasta zunächst in einem Teilchenbeschleuniger mit Röntgenstrahlen und dann auch noch mit energiereichen Neutronen, wie sie im Fachblatt Food Hydrocolloids berichten. Die Forschenden konnten so beobachten, was genau in den Nudeln passiert, wenn diese über unterschiedliche Zeiträume in unterschiedlichen Salzkonzentrationen gekocht werden.

„Meine Mutter hat mir das so beigebracht.“

Es zeigte sich: Mit längerer Kochzeit geht die Struktur der Stärke in der Pasta immer mehr verloren. Die Stärkekristalle, welche die Nudeln im Trockenzustand stabilisieren, schwellen an – und zwar „dramatischer bei der Gluten-freien Pasta“, wie die Chemiker und Physiker in ihrer Publikation schreiben. Die Abwesenheit von Gluten gebe den Stärkekügelchen offenbar mehr Raum, um quaddelig zu gelieren. Denn das Klebereiweiß Gluten bildet in normalen Nudeln ein stabilisierendes Gerüst und schließt darin die Stärkekügelchen ein, was wiederum deren glibbriges Anschwellen begrenzt. Die Folge der Glutenfreiheit ist also erhöhte Wabbelgefahr. Deshalb darf man Nudeln ohne Gluten keineswegs zu lange kochen. Sie verzeihen es einem nicht. „Normale Pasta hat eine höhere Toleranz gegenüber nicht-idealen Kochbedingungen“, so die Autoren.

Schutz gegen die übermäßig aufquellende Stärke bietet hingegen das Salz im Kochwasser. Doch es hat eine doppelte Funktion. Denn zugleich beschleunigt Salz den Abbau der stützenden Glutenmatrix in den Nudeln. Deshalb gelingen Nudeln in Salzwasser besser, aber zugleich ist mit den weißen Kristallen Vorsicht geboten: Weniger ist mehr. Sieben Gramm Salz pro Liter, wie es der Hersteller der von den Wissenschaftlern erworbenen Pasta auch empfiehlt, seien daher die beste Lösung, so das Team um Andrea Scotti.

Der Italiener arbeitet übrigens fern seiner Heimat an der Universität im schwedischen Lund, wo er womöglich genügend Abstand von seinen Landsleuten hat, um sich überhaupt an ein Experiment wie dieses zu wagen. Denn in Italien reagiert man auf naturwissenschaftliche Expertentipps rund um die heilige Pasta mitunter allergisch. Das zeigte sich, als der römische Physiknobelpreisträger Giorgio Parisi in der Energiekrise der Pandemie empfahl, den Herd beim Nudelkochen nach zwei Minuten abzustellen und mit geschlossenem Deckel einfach die Restwärme für den Garprozess zu nutzen. Parisi entfachte damit einen regelrechten Glaubenskampf. Am Ende rettete es die Reputation des Nobelpreisträgers, dass ihm ein bekannter Koch aus Mailand zur Seite sprang. Er verstehe die Aufregung nicht, sagte Davide Oldani, er koche Nudeln immer so. „Meine Mutter hat mir das so beigebracht.“