Seit ein paar Jahren nun tanzt sie durch ihr traurig gekacheltes Haus in Thousand Oaks, Kalifornien. Was man in diesen Reels auf Instagram sieht, ist altmodisch (die Moves und die Outfits), chaotisch (Hundehaufen auf den Fliesen) und ja, manchmal auch furchteinflößend, zum Beispiel dann, wenn sie mit Messern tanzt. Ist Britney etwa kaputt?, diskutieren deshalb Fans, Familie, Medien. „Britney ist allein zu Hause, fragil und verweigert Hilfe – kommt irgendjemand zu ihr durch?“, fragte die Klatschwebsite Page Six Ende September. Und „pbd1996“, ein Reddit-User, urteilte kürzlich: „Die Leute müssen verstehen, dass Britneys mentale Gesundheitsprobleme ihr Verhalten nur erklären, aber nicht entschuldigen.“
Mal wieder soll eine Frau dringend vor sich selbst gerettet werden
Solche Kommentare sind seit der Veröffentlichung der Memoiren des Kevin Federline vor ein paar Wochen Normalität. Der Ex-Mann und Vater von Britneys Söhnen, der seine ganze Identität auf der Ehe mit dem Popstar aufgebaut hat, ist sich nicht zu schade, 18 Jahre nach der Scheidung ein vernichtendes Bild von der Sängerin zu zeichnen. Sie habe Kokain genommen, während sie stillte und mit einem Messer in der Hand an der Schlafzimmertür ihren Söhnen beim Schlafen zugeschaut. Behauptet er, sich als Vater inszenierend, der sich um die Sicherheit seiner Ex-Frau sorgt. Ganz offen ruft er dazu auf, aus der #FreeBritney-Bewegung eine „Save Britney“-Kampagne zu machen, frei nach dem Motto: Alle haben sich geirrt, bitte wieder einsperren! Mal wieder soll eine Frau dringend vor sich selbst gerettet werden.
Und die selbsternannten Britney-Kenner brüllen laut mit. Jeder unaufgeräumte Hintergrund in ihren Videos, jeder ihrer exzentrischen Posts über Verletzungen, Verschwörungen und die böse Welt wird zum Beweisstück für das selbsternannte digitale Save-Britney-Tribunal. Am schlimmsten ist es auf Reddit, wo Leute sonst gerne Reisetipps teilen und sich über andere erheben. Es sind gibt so viele Britney-Feeds, dass man sie kaum zählen kann. „Sie ist manisch“, „Sie ist wahnhaft“, „Sie ist gefährlich“, lauten die Urteile. Eine Userin ist sich sicher, dass wir es hier mit der nächsten Marilyn Monroe oder dem nächsten Michael Jackson zu tun haben.
Schon lustig: Da wird uns die ganze Zeit gepredigt, dass das, was wir auf Social Media sehen, nicht die Realität ist, von der Porenfreiheit der Kim Kardashian bis zu den perfekten Leben töpfernder Frauen. Aber wenn es um Britney Spears geht, gibt Social Media angeblich die exakte Realität wieder.

:Teure Tränen
Verletzlichkeit zahlt auf die wichtigste Währung unserer Zeit ein: die Authentizität. Geht dabei nicht ausgerechnet die verloren?
Vor gut vier Wochen ging ein Video viral, das sie beim betrunkenen Autofahren zeigen soll. Vor ein paar Tagen tauchten Fotos von Britney auf, auf dem sie ein Sektglas hält und eine Weinbar verlässt. Egal, dass ihr Team sagt, sie habe keinen Alkohol getrunken. Egal, dass sie gar nicht betrunken aussieht, nur etwas komisch angezogen, wie jemand eben, der schon lange nicht mehr draußen gewesen ist – in den Subreddits und auf den Gossip-Websites werden ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihre Mimik Bild für Bild, Reel für Reel seziert. Aber was kommt bei all diesen Analysen nicht heraus? Dass Britney Spears auch einfach nur ein Mensch ist, mit all seinen Widersprüchen. Und mit dem Recht auf Schrägheit.
Denn mit dem Verrücktsein ist es so: Es gibt zwei Arten. Die eine ist weiblich. Sie wird immer dann konstatiert, wenn die Frau Probleme macht. Sie muss dann wegen Gefahr im Verzug sofort aus dem Verkehr gezogen werden.
Die andere Art ist männlich. Sie wird nur nicht so genannt und schon gar nicht aus dem Verkehr gezogen. Die männliche Verrücktheit darf gerne exzentrisch bis zerstörerisch sein. Männer dürfen Hotelzimmer mit der Kettensäge zerlegen und Fernseher aus dem Fenster schmeißen, sie sind dann Rockstars (Keith Moon, Rod Stewart). Männer dürfen minutenlange Totalaussetzer haben und trotzdem weiterhin Politik machen (Joe Biden, Mitch McConnell). Der US-Komiker Pete Davidson hat eine Verurteilung wegen rücksichtslosen Fahrens auf dem Kerbholz, seit er seine Mercedes-G-Klasse mal in ein Haus in Beverly Hills fuhr. Er leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. 2018 postete er eine Selbstmord-Botschaft in den sozialen Medien. Nur um ein Jahr später im Fernsehen darüber Witze zu machen. Männer sind, wenn sie komische Sachen machen, eben Genies.
Ye musste erst gehen, als antisemitische Kommentare öffentlich wurden
So sitzt Ye, früher bekannt als der Rapper Kanye West, der ziemlich offensichtlich an Wahnvorstellungen und anderem leidet, immer noch in der ersten Reihe bei Fashion Shows. Klar, sein Versuch, eine gut angezogene Gospelkirche zu gründen, tat niemandem weh. Aber sein Verhalten gegenüber Mitarbeitern von Adidas, seinem langjährigen Partner für sein Label Yeezy, schon. So ließ er sie Pornos schauen, um die Kreativität zu erhöhen, und mobbte Angestellte, teils auch mit sexuell aufgeladenen verbalen Belästigungen. Adidas schaute jahrelang weg – der Mann musste erst gehen, als antisemitische Kommentare öffentlich wurden.
Und dann hätten wir da noch den König der männlichen Freigeister, Johnny Depp. Ziemlich schlimm waren die Videos, die man im schmutzigen Prozess gegen seine Ex-Frau Amber Heard sehen konnten, es war viel Gelalle, Geschrei und Blut zu sehen. Der Mann verlor außerdem sein 650 Millionen-Vermögen, weil er über 20 Wohnsitze kaufte und sich jeden Monat Wein im Wert von 30 000 Dollar dorthin schicken ließ, wo er gerade war. Es ist gut möglich, dass Amber Heard auch ihre Probleme hatte. Fakt ist aber, dass er nach dem Gerichtsverfahren weiterhin als Wüstenvagabund verkleidet peinliche Werbespots für ein Dior-Parfum mit dem Namen Savage drehen darf. Der totenkopftuchtragende Johnny ist gar nicht schräg, er ist nur wild! Während Amber Heards Karriere erledigt ist.
Man könnte die Liste ewig weiterführen, von Tom Cruise bis Donald Trump, Fakt ist: Der Wahnsinn aller Art macht den Mann zum Rockstar, und manchmal macht sich die Öffentlichkeit Sorgen. Aber was bei Männern nie, wirklich nie zur Debatte steht, ist ihre Autonomie. Hat jemand eine „Save-Charlie“-Kampagne ins Leben gerufen, als Charlie Sheen durchdrehte? Wollte irgendjemand ihm die Kontrolle über sein Geld und seinen Körper entziehen? Ist es vorstellbar, dass Britney eines Tages lustig auf Netflix über ihre schrägen Zeiten fabuliert, so wie er neulich? Natürlich nicht.

:Der Dauerbrenner
In der Dokumentation „aka Charlie Sheen“ erzählt der Schauspieler von den Höhen und Tiefen seiner Film- und Drogenkarriere. Das ist der Wahnsinn – und oft überraschend bewegend.
Die Tierschützerin Brigitte Bardot ist eine „Crazy Cat Lady“, Alain Delon, der in seinem Leben mit Dutzenden Hunden lebte, ein „wahrer Tierfreund“. Es ist kein Zufall, dass männliche Tierschützer auf Instagram, egal wie wunderlich sie sein mögen, zu spendensammelnden Superhelden werden, während man bei Frauen schon Verdacht schöpft, wenn sie nur mit einem Hund und nicht mit einem Mann leben. Die Crazy-Karte wird von Männern natürlich auch strategisch gezogen, und zwar immer dann, wenn die Argumente ausgehen. Im Fall des Taugenichts Federline geht es wahrscheinlich um Geld, weswegen er dramatische Details über Britney liefert, die seine Forderung nach „Rettung“ legitimieren. Interessant ist, dass Spears’ Widerspruch – Beweise hat Federline ja keine – gar keine Rolle spielt. Gehört wird die „besorgte“ Stimme eines Manns, und die anonymen Stimmen aus dem Digital-Off stimmen ein.
Das erinnert dann wieder stark an die Nullerjahre, als Britney zum berühmtesten Opfer einer misogynen Gesellschaft wurde, die von Frauen ein strahlendes Lächeln, einen durchtrainierten Körper und absolutes Funktionieren verlangte. Mit zynischer Sensationsgeilheit sah man damals als Frau Britney beim Abstürzen zu und merkte nicht, dass man als junge Frau eigentlich im selben Boot saß. Vielleicht ist das bei den Britney-Rettern von heute auch so. Nur, dass die mentale Gesundheit jetzt der neue durchtrainierte Körper, also Fetisch ist. Die sich anbahnende „Rettung“ der Britney Spears bringt heute wie damals mehr Macht für Ex-Partner, Väter, männlich geführte Medienhäuser. Das ist wirklich zum Verrücktwerden.
