Formel 1: McLarens Führungsstruktur vor dem Großen Preis von Qatar

Im Pressezentrum der Formel-1-Rennstrecke von Qatar hängen Bilder von Rennfahrern. Eines zeigt Lando Norris und Oscar Piastri, die Piloten von McLaren im orangenen Overall. Gerade scheinen sie ihren Boliden entstiegen zu sein, sie stehen sich gegenüber. In der rechten Hand tragen sie ihre Helme. Ihre linke ist jeweils zur Faust geformt; vielleicht haben sie sich gerade berührt oder der Moment steht bevor. Sie lächeln sich an. Es gibt keine Legende. Aber unter dem Bild könnte stehen: „Harmonie unter Teamkollegen, Gegnern“.

Deshalb ist Max Verstappen wieder im Rennen um den Titel, punktgleich mit Piastri Zweiter. Der Jägermeister, der viermalige Champion, der beste Pilot, der wahrscheinlich Coolste dieser Generation am Steuer. Eine Gefahr nicht allein für den Titel. Für mehr. Verstappens Erscheinen im Rückspiegel setzt das McLaren-Modell unter Druck; manche sprechen von einer besonderen Führungskultur: in Harmonie zum Erfolg zu kommen mit zweien, von denen allenfalls einer Weltmeister werden kann.

Führungskultur, die allen dienen soll

Die Geschichte der Formel 1 bietet für dieses Ideal keine (bekannten) Beispiele. Im Gegenteil. Sobald der Bolide eines Rennstalls reif für den Titel scheint, beginnen die Funken zu sprühen und die Fetzen zu fliegen unter starken Steuermännern. Der Zweikampf von Alain Prost und Ayrton Senna bei McLaren um den Titel führte 1989 in Japan zur Karambolage, ein Jahr später, Prost fuhr nun Ferrari; rammte ihn Senna in Suzuka absichtlich, beide schieden aus, der Brasilianer war Weltmeister. Lewis Hamilton trieb Fernando Alonso bei McLaren 2007 in eine Blockadepolitik auf der Piste und letztlich zu Illoyalität und Flucht. Sebastian Vettel und Mark Webber entdeckten und pflegten bei Red Bull ihre gegenseitige Abneigung, vorsichtig formuliert. Nico Rosberg gelang es 2016, Hamilton in Spanien aus der Spur zu locken, mitten in das Heck seines Mercedes, auf dem Weg zu seiner ersten und einzigen Meisterschaft.

1988 in Monaco: Ayrton Senna (links) und Teamkollege Alain Prost
1988 in Monaco: Ayrton Senna (links) und Teamkollege Alain ProstPicture Alliance

In der Formel-1-Gesellschaft gilt der Teamkollege als erster Gegner. Das sehen auch Norris und Piastri so: „Jeder will den anderen schlagen“, sagen sie unisono. Aber ihre Vorgesetzten, die Manager des Rennstalls, Teamchef Andrea Stella und Geschäftsführer Zak Brown, schwören auf eine Führungskultur, die allen dienen soll: gleiche Behandlung für beide, freies Fahren vom ersten bis zum letzten Rennen, keine Teamorder zum Nachteil eines Piloten. Und das nur zu einer Bedingung: Sie dürfen sich nicht in die Kiste rauschen. Am Donnerstag wiederholte Stella seine Sicht angesichts der „Bedrohung“ namens Verstappen: „Wir haben immer gesagt, dass wir es, solange die Mathematik nichts anderes sagt, den beiden Fahrern überlassen, um ihre Chance auf den finalen Sieg zu kämpfen. So wird es in Qatar sein.“

Das ist bemerkenswert, weil es eine gleich gute Behandlung im Rennen mitunter nicht geben kann. Das Auto mag identisch sein, die Boxencrew beim Reifenwechsel ist es auch. Aber die Strategie – vor allem, wenn beide die gleiche wählen oder wenn sie während des laufenden Rennens verändert wird – birgt Zündstoff. Wer wird zuerst zur Box gerufen, wem wird wann zu welchem Reifen geraten?

Engelsgeduld des Teamchefs

Es gibt zum Ausgleich interne Regeln dafür. Und doch führt die Komplexität mitunter zu Vor- und Nachteilen, die ein Team beim besten Willen nicht alle steuern kann. McLaren will sie ausgleichen – die Fehler einer Boxencrew, wenn der Reifenwechsel zu lange dauert und ein Fahrer deshalb hinter den anderen zurückfällt. So geschehen in Monza. Piastri machte Platz für Norris. In drei von vier Fällen schien Norris besser davonzukommen. Vermutete Piastri, wie einst Alonso bei McLaren, hinter jeder Kleinigkeit eine Intrige, dann wäre McLaren längst gegen die Wand gefahren. Nachdem Norris in Singapur Piastri fast abdrängte, Piastri in Austin Norris, wenn auch halbwegs unschuldig, ins Auto sauste und beide im Sprint ausschieden, einigte man sich, nun quitt zu sein.

Teamchef Stella erläuterte im Verlauf der Saison mit einer Engelsgeduld, wie er als Jongleur das Vertrauen der Fahrer ins Team am Leben hält: mit „offenen Gesprächen nach den Rennen“, mit der Bereitschaft, „aus Fehlern zu lernen“, mit dem unbedingten Ziel, in den Diskussionen „zu Lösungen“ zu kommen, nichts „gären zu lassen“. Stella arbeitete 15 Jahre bei Ferrari, ehe er vor zehn Jahren zu McLaren wechselte. Schon zu Schumacher-Zeiten galt seine Offenheit, seine freundliche, verbindliche, fordernde wie menschliche Art als besonders ausgeprägt in der Szene. Wenn der Italiener von „Fairness“ und „Respekt“ spricht, sieht niemand im Fahrerlager einen Heiligenschein über seinem Oberstübchen aufsteigen. Stella genießt Vertrauen. Bei Ferrari wurde er einst mit einer anderen Führungskultur konfrontiert. Der Rennstall wählte Schumacher als Chefpiloten, diente ihm, weil der lieferte – so wie Hamilton Mercedes, Verstappen nun Red Bull.

Stella bietet sich diese Variante im Moment nicht an. Weder Norris noch Piastri kreisen auf dem Niveau der Champions. Es ist nicht sicher, ob sie es erreichen werden. Das Bemühen um Chancengleichheit könnte man auch als klugen Versuch betrachten, beide im Wettbewerb auf Augenhöhe unter einem konstruktiven Entwicklungsdruck zu halten. Piastri, der abgezockter erschien, leistete sich im Herbst eine Reihe Fehler, verlor seine Führung an den eineinhalb Jahre älteren Norris (26), weil der all seinen Zweifeln zum Trotz in derselben Phase Selbstsicherheit ausstrahlte – wie am Donnerstag, vor seinem ersten Matchball. Er muss in Qatar nur zwei Punkte mehr gewinnen als seine beiden Verfolger: „Als ich 35 Punkte zurücklag, habe ich das Gleiche gefühlt wie nun mit 24 Punkten Vorsprung. Es gibt nichts, was ich ändern muss.“

McLarens Führung kann sich auf die Loyalität der beiden vorerst verlassen. Sie sind im Team groß geworden. Und sie glauben, mit ihm ihre Ziele erreichen zu können: den ersten WM-Titel und weitere. Es gibt aber einen Faktor, der die Balance recht sicher kippen lässt. Wenn nach dem ersten Erfolg der Anspruch wächst. Für zwei Champions ist kein Platz in einem Team.