
Eine Mutter rennt ihrem Kind hinterher, es lernt gerade, wie man Fahrrad fährt. Stopp, hier ist die Straße, ANHALTEN, okay, jetzt weiter. Das Kind beschleunigt, die Mutter auch, einem Kind in einer Großstadt Radfahren beizubringen, ist ungefähr so entspannend wie Meditieren vor der Autobahnkapelle. Halt, da kommt ein Auto, ein GROSSES Auto, super gemacht. Dann, es sind gerade keine schimpfenden Lastenrad-Eltern in Sicht und auch kein Geländewagen namens „Defender“, sprintet die Mutter los, reißt ein Handy aus der Jackentasche und ruft: Schau mal, jetzt schau doch mal her!
Wer ist diese seltsame Person, und was macht sie da?
Diese Person bin ich. Eine Person mit modernen Problemen, die eigentlich keine sein sollten, aber leider welche sind. Nennen wir es Probleme mit der digitalen Impulskontrolle. Eine Person, die soeben ihr 10 654. Foto im Handyarchiv abgespeichert hat, während ihre Dreijährige mit einem schnittigen Kinderrad auf einen noch schnittigeren Sportwagen zugerast ist, München halt. Das Foto wird sie bis zum voraussichtlichen Renteneintritt 2052 vielleicht noch zweimal anschauen. Vielleicht auch nicht.
Auf meinem Handy sind, Stand jetzt, 11 620 Objekte gespeichert, das Archiv beginnt im März 2020. Kann man sich so vorstellen, dass auf Lockdown-Stillleben wie Coq au vin und Masken mit Leoprint sehr bald ein schwarz-weißes Etwas im Fotofeed auftaucht, das Ultraschallbild. Dies ist nur der Urknall der bald folgenden Fotoexplosion.
Und so kommt es regelmäßig vor, dass ich zum Runterkommen mal eben durch 8000 Fotos scrolle, lass es 9000 sein, vielleicht sitze ich dabei im Zug, eventuell habe ich mich im Badezimmer eingeschlossen, um schnell noch mal zu realisieren, dass ich wirklich Mutter bin: das Baby und sein witziger Moro-Reflex, bei dem die Ärmchen hochgerissen werden, als müsse schnell die Welt gerettet werden. Die erste Nacht zu Hause, die erste Woche, mit anderthalb Monaten ein Lächeln, schau, wie es sich dreht, wie es robbt, krabbelt, schreit, herzzerreißend süß ist und dich nicht schlafen lässt, und jetzt ist es schon eins, zwei, drei. Schwankend, laufend, mit Gips ums Schlüsselbein und Schokoeis am Mund. Ich habe einen „Kleinkind-Wanderer über dem Nebelmeer“ auf meinem Handy sowie Variationen von Munchs „Schrei“. Wobei Letzteres keinen morgendlichen Wutanfall beim Anziehen zeigt, sondern nur den Umstand, dass Kinder irgendwann merken, dass sie fotografiert werden. Und zwar ständig und ohne Gnade und von quasi jedem.
Als ich wieder einmal so durch mein Archiv ging und die Jahre rekapitulierte, sah ich es plötzlich, unleugbar: Meine Tochter hat jetzt ein Fotogesicht, mit noch nicht mal ganz vier. Ein übertriebenes Zeig-deine-Zähne-Lächeln auf Knopfdruck, unter anderem herangezüchtet von mir, damit ich irgendwann als Rentnerin mal Zeit habe, durch meine ein, zwei Millionen Fotos zu gehen.
Um mich zu entschuldigen, ohne mich dabei zu sehr als Schuldige zu erkennen zu geben, lasse ich mein Handy jetzt öfter in der Jackentasche und habe meiner Tochter ein Album mit Bildern aus dem letzten Jahr gebastelt, mit Kleber und echter Handschrift und so, zusammen saßen wir auf dem Sofa und blätterten durch die Seiten, ein schöner Moment. Als sie sah, dass ich über den Basteltisch ein Urlaubsbild von ihr geklebt hatte, sagte sie: „Mach das ab, Mama.“
In dieser Kolumne schreiben Patrick Bauer und Friederike Zoe Grasshoff im Wechsel über ihren Alltag als Eltern. Alle bisher erschienen Folgen finden Sie hier.
