Alexander Gurzhy liebte Stillleben. Eine Glasschale, ein Messer mit weißem Griff, ein helles Stück Brot, belegt mit leuchtenden Granatapfelkernen. Oder ist es Johannisbeermarmelade? Eine längliche Vase mit Weidenzweigen, von schräg unten beleuchtet, sodass der Schatten an der Wand sie weit überragt. Der Rauch einer soeben erloschenen Kerze, daneben der dünnen Rauchfaden einer Zigarette.
Überhaupt schätzte Gurzhy die stillen Momente: regennasse Straßen bei Nacht, Baumreihen im Nebel, Brachland an den Ausläufern der Stadt. In der Ferne die Plattenbauten Charkiws. Oder eine Serie, die das Lenin-Denkmal auf dem damaligen Dserschinski-Platz zeigt: Lenin ist im Nebel nur zu erahnen, die Fotografien sind zudem leicht angeschrägt, so als würde Revolutionsführer allmählich wegrutschen und sich gleichzeitig auflösen.
Unter Gorbatschow nichts los?
Der große Charkiwer Fotograf Boris Mikhailov sagte einmal, dass er nur in seiner Heimatstadt die eigene Bildsprache habe finden, dass er nur dort habe arbeiten können: Weil in Charkiw während der Breschnew-Ära und auch unter Gorbatschow nichts los war. Weil es dort keinen Kunstbetrieb, weil es dort sowieso fast nichts gab. Dabei war Charkiw, heute die zweitgrößte Stadt der Ukraine, ehedem sogar die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. Aber auch auf den Bildern von Alexander Gurzhy spürt man etwas Weltverlorenes. Breite Straßen, auf denen kaum Autos verkehren, leise Porträts von zeitunglesenden Männern und kleinen Kindern, die rote Fähnchen schwenken. Eine Frau, die im weißgepunkteten Kleid auf der Rückseite der Großen Synagoge unterwegs ist.

Die Synagoge wurde zu Anfang der russischen Vollinvasion der Ukraine durch Bomben beschädigt. Das Lenin-Denkmal steht schon lange nicht mehr, und viele Straßen und Plätze sind längst unbenannt. Entstanden sind Gurzhys Bilder wie die Mikhailovs vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Gurzhy allerdings war kein professioneller Fotograf, sondern Zahnarzt von Beruf. 1995 zog er mit seiner Familie nach Potsdam. Sein Sohn, der 1975 geborene Musiker, Komponist und Autor Yuriy Gurzhy, lebt heute in Berlin.
Yuriy Gurzhy hat nun einen kleinen, sehr charmanten Band mit Fotografien seines Vaters herausgegeben und dazu eine Reihe kurzer Texte geschrieben. Erinnerungen an das Charkiw seiner Kindheit stehen da neben Szenen von seinen Reisen in die Stadt im Krieg. So glaubte der kleine Gurzhy lange Zeit, der alte Mann mit Bart, dessen Porträt in der elterlichen Wohnung hing, wäre ein entfernter Verwandter – bis er das Bild auch in den Wohnungen seiner Freunde sah und erfuhr, dass es sich bei dem vermeintlichen Verwandten um den damals in der Ukraine verehrten Schriftsteller Ernest Hemingway handelte. Es gab in Charkiw sogar eine Bar namens „Der alte Hem“, die Yuriy Gurzhy mit einem anderen berühmten Charkiwer, mit Serhij Zhadan, zu besuchen pflegte. Mitte März 2022 wurde sie von einer russischen Rakete zerstört.
Die Texte in „Ein Aquarium voller Schlüssel“ bestechen dabei durch ihre heitere Gelassenheit. Es sind keine Anklagetexte, sondern heimliche Liebeserklärungen. Auch wenn Gurzhy wegen seines deutschen Akzents beim Antiquitätenhändler sofort Nazi-Devotionalien angeboten bekommt oder eine Frau, die alte Postkarten verkauft, nur ihre Ruhe haben will – sollen die Russen doch den Krieg gewinnen, sagt sie –, Gurzhy hält es mit einer Freundin, die von Lemberg nach Charkiw gezogen ist: „Kyjiw ist tot! Lemberg ist vorbei! Das wahre Leben spielt sich in Charkiw ab, Mann!“
Freilich verschweigt er seiner Mutter, dass er so nah an der Front ist, und behauptet, er wäre in Kiew. Und der Antiquitätenhändler erzählt, wie die Nachbarn nach der Invasion alle zu ihm kamen, ihm die Schlüssel gaben, damit er hin und wieder nach dem Rechten sehe. Die Schlüssel legte er dann alle in ein altes Aquarium. Wo sie heute noch liegen, ein unfotografiertes Stillleben.
