diVine: Kann dieses Comeback länger halten als sechs Sekunden?

Inzwischen haben wir so viele Jahre online verbracht, dass es möglich ist, von den guten alten Tagen des sozialen Internets zu schwärmen, vor all den Algorithmen und optimierten Hochglanzinhalten. Als man morgens jemanden auf StudiVZ gruschelte, mittags eins von etwa 50 YouTube-Videos guckte, abends einen frechen Insiderwitz auf die Facebook-Pinnwand der besten Freundin schrieb. Und dann war da natürlich Vine, mythische Quelle unzähliger ikonischer Video-Memes. Da war die Welt noch in Ordnung!

Vine wurde im Januar 2017 eingestellt – nun aber kommt das Comeback: Der Twitter-Gründer Jack Dorsey will die kollektive Nostalgie unter jungen Millennials und der älteren Gen Z anzapfen und die Kurzvideoplattform zurückbringen. Samt altem Videoarchiv und neuem Namen: diVine – die Webseite ist schon online, derzeit befindet sich allerdings alles noch in einer holprigen Testphase. Das Konzept ist sehnsuchtserregend retro. Wie in seinem letzten Leben sollen auf (di)Vine alle Videos exakt sechs Sekunden lang sein. Es gibt keine Algorithmen und keine generative KI, die heute das Internet zu schlucken droht.

DiVine ist also der Versuch einer Rückkehr in die besagte gute alte Zeit des Webs. Die App existierte von 2012 bis 2017, war kurzlebig, chaotisch, ihrer Zeit voraus und kulturell unheimlich einflussreich. Bis heute kann man sich viele Videos in millionenfach geklickten Best-ofs auf YouTube ansehen. Sie tragen Titel wie „Vines that cure my anxiety“,Vines that I can quote from memory“ oder „Vines that butter my croissant“. Das Sechs-Sekunden-Limit für Videos provozierte eine unheimliche Kreativität bei den Nutzern. Resultat waren unzählige chaotische Videoschnipsel, die Pointen und Plotlines brillant in wenige Sekunden pressten, ikonische Memes, die bis heute im Internet wiederholt werden. Sie prägten eine Art absurdistischen Internethumor, dem bis heute viele Instagram-Reels und TikToks nacheifern – und Leute kommentieren wertschätzend „vine energy“, falls es mal jemandem gelingt.

Als das Internet noch von und für Menschen war

Insgesamt haben Vine und Instagram oder TikTok jedoch wenig gemein: Beide zeichnen sich durch endlose Feeds und aggressive Algorithmen aus, die Kurzvideos individualisiert ausspielen. YouTube, Snapchat, Facebook und selbst Dorseys Twitter, heute Musks X, haben längst ähnliche Funktionen in ihre Apps integriert. OpenAI und Meta gehen sogar noch einen Schritt weiter und haben Apps entwickelt, deren Feeds vollständig aus surrealen KI-Clips bestehen.

Längst hat sich auf den Plattformen ein Vokabular dafür ausgebildet: Man spricht von „brainrot“ (dt. Hirnfäule) und „AI-Slop“ (dt. KI-Schlamm), um die minderwertigen, algorithmisch optimierten oder KI-generierten Inhalte zu beschreiben. Gleichzeitig haben die Netzwerke, ihre Inhalte und ständigen Notifications die Aufmerksamkeitsspannen ihrer Nutzer so stark zu Kleinholz gehauen, dass inzwischen erhebliche Teile einer Generation davon überzeugt sind, ADHS zu haben. Womöglich ist es angesichts dieses Raubbaus an Körper und Geist ihrer Nutzer durch die Plattformen also eben doch kein Wunder, dass es nun zu einem Backlash kommt: Man will zurück in die Zeit, als sich das Internet noch menschlich anfühlte.  

Ob diVine diese Rückkehr sein kann, scheint mehr als fragwürdig. Denn gleichzeitig zu Vines Höhenflug professionalisierte sich das Internet, die Figur des Influencers kam auf, und mit ihr auch die Idee, dass Content-Produzent ein echter Beruf sein könnte, der dementsprechend vergütet gehört. Vines Gründer, die auch unter Twitter weiter an der App arbeiteten, verweigerten sich dieser Idee. Zwar taten sie das wohl aus idealistischen Gründen, nicht etwa aus Geiz, doch den Stars der App war das egal. Und so zogen sie mitsamt ihren Inhalten schließlich gen YouTube oder Instagram. Vine scheiterte an einem immer professionelleren, sterileren Internet, in dem das kreative Chaos des Videoportals zunehmend fehl am Platz wirkte – und es ist die Erschöpfung durch das Internet, die nun die Nostalgie nach der App so sehr bestärkt.

Aller Anfang ist klein – und manchmal auch kurz

Doch reicht Nostalgie aus? Alle Trends, die das Ende der App einleiteten, haben sich seither nur intensiviert. Die Algorithmen sind aggressiver, die Inhalte noch smoother und unanstößiger, Content-Producer ist nicht mehr nur eine mögliche Karriere, sondern Wunschberuf für viele junge, kreative Menschen. Auch eine Video-App zu sein, ist im Jahr 2025 kein Alleinstellungsmerkmal mehr – im Gegenteil: Alle großen Plattformen haben sich heute maßgeblich zu TikTok verwandelt, weil das TikTok-Modell schlicht am effektivsten Nutzungsminuten maximiert und so besonders viel Werbung ausspielen kann. Möchte diVine konkurrieren und nicht nur vergilbtes Fotoalbum voller Erinnerungen an eine bessere Zeit sein, müsste es sich denselben Marktkräften unterwerfen – doch dann wäre es selbst langfristig nicht mehr besser. Catch-22.

Doch der Backlash gegen KI und Algorithmen entwickelt zunehmend Wucht. Der Popstar Rosalía betonte kürzlich in Bezug auf ihr genresprengendes Album Lux: „Daran ist nichts KI. Es ist ein menschliches Album.“ Während Plattformunternehmen versuchen, Kultur in einen möglichst unanstößigen Einheitsbrei zu verwandeln, optimiert für Maschinen und Werbekunden, gerät genuin menschliches Schaffen zum Alleinstellungsmerkmal. DiVine allein ist vermutlich noch nicht die Kehrtwende. Aber sechs Sekunden sind ja schon mal ein Anfang.