Sexualdelikte in Mexiko: Die Präsidentin legt ihre Zurückhaltung ab

D ie Bilder wirkten verstörend: Mitten im Zentrum von Mexiko-Stadt, nahe dem Regierungspalast, bewegt sich ein betrunkener Mann auf offener Straße auf die Präsidentin Claudia Sheinbaum zu und greift ihr von hinten an die Brust. Dann versucht er noch, der mexikanischen Staatschefin einen Kuss zu geben, was aber einer ihrer Personenschützer zu verhindern weiß.

Die Präsidentin reagiert zurückhaltend und erscheint verunsichert. Sie lächelt, spricht den Angreifer freundlich an und beruhigt ihn mit den Worten: „Mach dir keine Sorgen.“ Man habe ein gemeinsames Foto gemacht.

Natürlich ging ein Video des Vorfalls der ersten Novemberwoche schnell viral. Unzählige Feministinnen, Politikerinnen, Journalistinnen sowie weiterer Bürgerinnen und Bürger solidarisierten sich mit Sheinbaum, die feministische Aktivistin Julia Didriksson warf die Frage auf: „Wie hätte ich reagiert?“

Fast jede Frau habe sich in der Zurückhaltung der Präsidentin wiedererkannt, erklärt sie auf Instagram und erläuterte, warum Frauen auf solche Angriffe oft nicht adäquat kontern.

Ein gefährliches Bild von Männlichkeit

Viele reagierten zögerlich, weil sie sich schämten, Angst hätten, verwirrt seien oder die Situation nicht noch verschärfen wollten, sagte Didriksson. Ihr Post endete mit einem Aufruf zur Debatte über die „Konstruktion von Maskulinität“, die Männer glauben lasse, sie hätten das Recht, „uns ohne unsere Erlaubnis zu berühren“.

Tatsächlich rief die Tat eine umfangreiche gesellschaftliche Diskussion ins Leben. Am Tag nach dem Angriff äußerte sich Sheinbaum selbst: „Wenn sich jemand so der Präsidentin gegenüber verhält, was passiert dann erst mit all den anderen Frauen im Land?“ Von der augenscheinlich konzilianten Haltung des Vortags war nichts mehr geblieben.

Sie ergänzte ein paar erklärende Sätze zu der sicherheitstechnischen Frage, warum sich ihr jemand ungehindert nähern konnte. Sie werde auch weiterhin nicht auf die Nähe zur Bevölkerung verzichten, betonte die Linkspolitikerin, die das Bad in der Menge von ihrem Vorgänger Andrés Manuel López Obrador übernommen hat.

Darüber hinaus fand Sheinbaum deutliche Worte: „Männer müssen kapieren, dass solche Vorfälle Gewalt gegen Frauen sind und damit ein Delikt darstellen.“ Sie erstattete Anzeige gegen den Täter und kündigte einen Generalplan gegen sexuelle Übergriffe an. Dabei geht es in erster Linie um eine Typifizierung des Delikts. Künftig sollen die Taten in ganz Mexiko strafrechtlich einheitlich verfolgt werden.

Bislang werden diese Angriffe nicht in allen der 32 Bundesstaaten als Straftat betrachtet. Und das in einem Land, in dem täglich zehn Frauen getötet werden. Einem Land, in dem Untersuchungen des Staatlichen Statistischen Instituts zufolge 70 Prozent der Mädchen und Frauen ab 15 Jahren psychologische, sexualisierte oder andere körperliche Gewalt erfahren haben.

93 Prozent der Opfer geben an, die Angriffe nicht angezeigt zu haben. Das ist nicht zuletzt so, weil die meisten Anzeigen folgenlos bleiben, da Strafverfolger die Vorwürfe nicht ernst nehmen und sich nicht um Aufklärung kümmern. Oder weil sie diese bewusst verhindern: Nur zwei von hundert Verfahren enden mit einer Verurteilung.

Sexualdelikte werden nicht wahrgenommen

Darin liegt das Problem. Die „Konstruktion von Maskulinität“, wie Didriksson es nennt, verhindert eine juristische Verfolgung, wie hoch eine mögliche Strafe auch sein mag. Zweifellos wurden Frauenrechte in Mexiko in letzter Zeit gestärkt und die Lebensbedingungen der weiblichen Bevölkerung verbessert.

Dennoch dominiert in zahlreichen Familien, Gemeinden und Behörden ein machistisches Denken, in dem sexualisierte Delikte nicht als solche wahrgenommen werden. In ihrer gewalttätigsten Formen kommt das in Gegenden zum Ausdruck, die von kriminellen Kartellen kontrolliert und deren Männlichkeitskult geprägt sind.

Gesetze werden bislang dagegen wenig ausrichten. Dennoch dürften Sheinbaums Anzeige und ihre deutlichen Worte ihre Wirkung nicht verfehlen. Gerade auch, weil viele ihre erste zurückhaltende Reaktion gut verstehen.